Es ist Samstag, 10 Uhr und ich komme etwas zu spät. Als ich auf die Klingel des
Helios Heilzentrums in Nürnberg drücke, öffnet mir ein großer, schlanker,
weißhaariger Mann, der das Haar zu einem Zopf gebunden hat.
Ich solle leise sein, denn es würden alle schon in Stille sitzen.
In Windeseile lege ich Mantel und Schuhe ab und betrete den Raum, in dem
ungefähr 17 Menschen im Kreis sitzen. Es läuft leise Musik, alle haben
die Augen geschlossen.
Ich setze mich auf den einzigen freien Platz der noch
da ist und atme erstmal aus. Dann schließe ich auch die Augen. Sofort spüre
ich die angenehme Ruhe, die sich in mir auszubreiten beginnt. Ich
habe es schon immer geliebt in stillen Gruppen zu sitzen. Die Energie ist eine
andere, als wenn man alleine meditiert.
Kurz darauf ist der helle, klare Ton der Zimbeln zu hören, die Luna
aneinanderschlägt, als Zeichen des Beginns. Alle Augen öffnen sich, eine kurze
Unruhe kommt auf, erwartungsvolle Blicke, Lächeln. Ich kenne einige wenige
Gesichter und habe keine Ahnung, was mich erwartet.
Bis zum Schluss war ich mir nicht sicher, ob ich hingehen sollte, trotzdem ich
Luna U. Müller, die Leiterin des Heilkreises sehr verehre. Ich dachte, ich müsse
ein konkretes Thema haben und hatte mir auch etwas zurechtgelegt, doch
nun, da ich hier sitze, ist es wie leer gefegt in mir.
Jeder, der etwas von sich preisgeben will, darf jetzt etwas sagen. Warum
er oder sie hier sei, was ihn oder sie gerade jetzt bewegt, den Namen. Drei
Männer sind anwesend, der Rest besteht aus Frauen ab 35 bis Anfang 60,
so schätze ich.
Der Wunsch nach Heilung
Es werden nicht alle etwas zu sich und ihrem Beweggrund sagen, doch viele
erzählen gleich so bereitwillig von sich und ihrem Thema, dass ich bereits jetzt
berührt bin von der Offenheit, die hier herrscht.
Die Themen sind vielfältig und reichen von körperlichen Krankheiten bis zu
geistigen Problematiken, Beziehungsthemen, die immer wieder im Alltag
auftauchen und das Leben erschweren. Luna macht darauf aufmerksam,
dass es nicht darum gehen würde, ohne Krankheiten zu sein. Ein glückliches
Leben sei nicht von körperlicher Gesundheit abhängig.
Heilung geschehe im Geist und der Körper kann dem folgen. Muss aber
nicht. Das ist die überraschende Ansage. Es gehe im Heilkreis auch nicht um
Wunderheilungen. Es gehe darum etwas aufzudecken und zur Heilung
anzuregen. Das Eintreten in einen heilenden Prozess.
Nach der Vorstellungsrunde, in der mir die meisten schon vertrauter geworden
sind, und einer kleinen Pause, geht es direkt über zum Heilkreis.
Ein Heilkreis ist, wie ich erkennen werde, ein Kreis aus Menschen, in dessen
Mitte man sich vor den Heilkreisleiter, in dem Fall Luna, setzt. Man bringt sein
Anliegen hervor, die Leiterin sagt etwas dazu und legt auch Hand an, wenn
gestaute Energien erspürt werden.
Danach kann man zur weiteren Bearbeitung
des Themas mit einem der beiden Assistenten in einen Nebenraum gehen oder
sich hinter einem Paravent, im gleichen Zimmer, weiter behandeln lassen.
Alle dürfen alles hören und sind als stille Zeugen mit im Raum. Spätestens jetzt
werde ich nervös.
Klare, starke Energien
Sollte ich bisher noch nicht so sehr an Energien geglaubt haben, die zwischen
und durch Menschen entstehen, so kann ich es ab jetzt mehr als deutlich
beobachten. Sobald sich jemand nach vorne setzt, beginnen bei den meisten
auch schon die Tränen zu fließen.
Als würde dieser Platz da vorne bereits eine Aura der Lösung und Klarheit
ausstrahlen. Wenn Du da vorne sitzt, geht’s um Dich. Und es taucht
genau das auf, was jetzt gerade in deinem Leben dran ist.
Ich bin verblüfft und fasziniert gleichzeitig, wie eindeutig diese Wirkung ist.
Ich sitze da und heule, weil es mich berührt, wie tief jemand bereit ist, sich
hinzugeben und an sich zu arbeiten. Bereit ist, sich zu öffnen und
zuzulassen, was jetzt kommen will und angesehen werden will. Kein einziges Mal
habe ich das Gefühl, die anderen Teilnehmer wären Voyeure der Offenlegung
von Schmerz.
Ich sehe in jedem Anwesenden Mitgefühl und starke Konzentration auf den, der
gerade vorne ist. Ein vollständiges Dabeisein, als stiller Begleiter, als
schützender Rahmen, als stärkende, haltende Energie.
Und dann bin ich dran.
Ich spüre Widerstand, ich will sofort gehen und nichts sagen, mein Magen dreht
sich fast um.
Und doch setze ich mich vor Luna. Es wird still und ich spüre meine
Gefühlsaufwallung. Tränen steigen hoch und ich brauche eine Weile, um mich zu
beruhigen. Ich fühle mich auf einmal klein und hilflos. Dann kommt es einfach
so aus mir heraus:
Die Angst vor der Tiefe
Ich leide darunter, dass ich nie da sein will. Ich spüre immer Gegenkräfte,
die mich aus dem jetzigen Moment herauskatapultieren wollen.
Immer woanders hin. Seien es Tagträume oder Tätigkeiten oder Ablenkungen
jeder Art. Ich will nicht hier und jetzt sein. Auch in ständig wechselnden
Ideen und Projekten würde sich das ausdrücken, nicht in die Tiefe gehen
zu wollen, sei das große Leid.
Und das wäre deshalb, so vermute ich, weil tief in mir der Zweifel besteht,
dass das, was ist, gut ist, wie es ist. Als würde ein alles durchdringender Zweifel
daran bestehen, dass ich so, wie ich wäre, gut und richtig sei.
Luna fragt mich ruhig, ob ich dieses Gefühl eher von meiner Mutter oder meinem
Vater vermittelt bekommen hätte. Ich sage, von meinem Vater. Und wodurch hätte
ich es mitbekommen?
Durch Kritik und einmal durch den Satz zu dumm zu sein, um genau so gebildet
zu werden wie er. Ich fühle mich vollkommen aufgelöst und innerlich brennend,
wie eine offene Wunde.
Ich füge hinzu, dass dieser Satz meiner Meinung nach der Auslöser für meinen
Drang alles verstehen zu wollen war. „Du wolltest alles verstehen, damit Dein Vater
Dich lieb hat?“, fragt sie und sieht mich dabei weich an. „Nein!“, sage ich und spüre
inneren Widerstand. „Damit ich seine Motivation verstehen kann, warum er mich
verletzen wollte“.
Uralte Themen kommen hoch
Ich soll nochmal genauer nachfühlen.Warum wollte ich genau so gebildet werden
wie er? Und dann wird es auch mir klar: Um von ihm anerkannt und
geliebt zu werden.
In diesem Moment brechen die letzten inneren Dämme, denn ich dachte, das
Thema hätte ich schon längst aufgelöst und spüre nun, dass es noch immer,
tief drinnen, mein Leben beeinflusst.
Ich gebe mich dem Gefühl hin und werde offen und weit.
Luna sagt, dies wäre das innere Kind in mir, das sich so sehr nach Anerkennung
sehnt. Sie bittet darum, mich umzudrehen und mich rückwärts an sie zu lehnen.
Ich spüre ihre Arme um mich und fühle mich klein und schwach und
gleichzeitig gehalten. Ich blicke zu Boden.
Sie sagt, ich solle in die Augen aller Anwesenden schauen, um dort die
Anerkennung zu entdecken, die ich mir so sehr wünsche. Plötzlich bricht sich ein
Gefühl bahn, dass ich seit Jahren nicht mehr bewusst gespürt hatte.
Es ist Scham.
Im Feuer der Scham
Ich schäme mich entsetzlich dafür, Anerkennung zu wollen. Durch den
verschwommenen Schleier von Tränen, sehe ich in die Augen der Menschen um
mich herum und was ich sehe, zerreißt mir beinahe das Herz.
Mir schlägt so viel Liebe und Mitgefühl, Lächeln und Anerkennung entgegen, dass
ich es buchstäblich nicht fassen kann. Ich stehe im Feuer der Scham und
versuche zu atmen, um mich nicht vollkommen davon wegschwemmen zu lassen.
Dies wäre das Gefühl, dass ich in meinem Leben nicht zulassen würde, sagt Luna.
Es sei wie ein Makel, den ich versteckt halten würde, um es mit anderen
Dingen zu überlagern, damit ich es nicht fühlen müsse. In mir wäre dieses
Mädchen, dass für das, was es macht, Anerkennung möchte. Das zeigen möchte,
was es alles auf die Beine stellen kann. Daran sei nichts schlechtes.
Doch in mir gäbe es eine Verhärtung diesem Mädchen gegenüber, das so, wie es ist,
nicht sein darf. Aber erst, wenn dieses Kind sein dürfe, mit all seinen
Bedürfnissen, erst dann käme ich in meine Kraft.
Erst dann könne diese versteckte Wunde heilen.
Durch Zulassen dieses Bedürfnisses nach Anerkennung in mir, durch
Zulassen der Scham darüber. Durch die Aufgabe des Widerstandes gegen dieses Kind.
Wie fühlt sich das innere Kind?
Ich fühle mich weit, offen und auf einmal ruhig. Ich spüre den Schmerz noch
immer, aber es ist auch Ruhe da. Ich habe das Gefühl unter enormen
Anstrengungen einen Gipfel erklommen zu haben. Den Gipfel der Scham.
Es war so eine Wucht, die mich von Innen her getroffen hatte und nun
werde ich langsam still.

Luna U. Müller
Sie legt ihre Hand auf mein Herz und sagt, es gäbe in mir eine große Sehnsucht
ins Herz zu fallen. Manfred, der Mann, der mir die Tür geöffnet hatte, solle mit mir
hinter den Paravant gehen. Dort könne ich mich hinlegen, er würde mir die Hand
auf mein Herz legen, damit ich dem noch weiter nachspüren könne.
Ich folge ihm nach und lege mich hin. Noch immer mitgenommen von dem
gerade erlebten. Ich erwarte mir nun nichts weiter mehr und denke: Ich werde
mich jetzt noch kurz hinlegen und dann habe ich „es geschafft“.
Manfred kniet sich neben mich, ich halte die Augen geschlossen und er legt seine
Hand auf mein Herz. Sie ist sehr warm. Augenblicklich muss ich tiefer atmen
und spüre den sanften Druck, den seine Hand ausübt. Ich spüre plötzlich eine
weitere Öffnung in dieser Gegend und neuer Schmerz wallt auf. „Lass los“,
sagt Manfred, „Es ist alles gut. Es darf alles sein.“
Diese Worte beruhigen mich und ich lasse los und lasse den Schmerz sein, den
Schmerz der sich alt anfühlt, als würde eine Tür geöffnet werden, deren
Existenz ich lange vor mir versteckt gehalten hatte. Ich werde nach und nach
wieder ruhig. Ich fühle mich sehr sicher bei Manfred, auch wenn wir uns vorher
noch nie begegnet waren.
Innerlich befreit
Kurz darauf sitze ich wieder im Kreis. Noch etwas benommen, doch innerlich
befreit, offen und erleichtert. Ich verfolge gespannt und konzentriert die
Prozesse der anderen, von denen ich mir viel für mein eigenes Leben mitnehmen
kann. Gegen 19 Uhr ist es vorbei. Es ist ein sehr spezielles Gefühl, wenn fremde
Menschen innerhalb von ein paar Stunden einem so vertraut werden,
weil sie sich in vollkommener Offenheit gezeigt hatten.
Ich bewundere Luna für ihre sehr genaue, behutsame, hingebungsvolle
und tiefe Arbeit. Sie ist sanft, wo Sanftheit gefordert ist, sie ist stark, wo Stärke
gebraucht wird und deutlich, wo Klarheit gefordert ist. Es war harte Arbeit für
jeden Einzelnen so intensiv da zu sein, wie sie es war, das kann man nur schaffen,
wenn man es aus tiefer Liebe zum Menschen tut.
Als ich am Bahnof ankomme, um zurück nach Hause zu fahren, sind mir mit
einem Mal alle Menschen, die ich sehe, vertraut. Ich weiß jetzt sicher, dass
jeder seinen Schmerz mit sich herum trägt. Ich weiß, dass jeder seinen Schmerz
vor sich selbst und den anderen versteckt und dieses Versteckspiel es ist, das
das Leben so oft zur Hölle macht.
Ich bin dankbar dafür, meinen Schmerzpunkt berührt zu haben und weiß, dass
die Arbeit jetzt erst beginnt. Der Weg heißt Annahme all dessen, was ist. Kommen
lassen und Gehen lassen. Die Integration aller verlorenen Anteile, um sie dann,
nach und nach übersteigen zu können.
Danke an Luna für ihre wundervolle Arbeit. Danke an alle Teilnehmer für
ihre berührende Offenheit und das Halten der Energie.
Danke Leben, für die Wunder, die ich erfahre.
Weitere Infos zu Luna U. Müllers Arbeit findest Du
hier auf ihrer Webseite.
In Verbundenheit,
Deine Nicole
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