Das erste Mal, als mir mein zukünftiger Tod vollkommen bewusst wurde, war ich gerade auf dem Nachhauseweg vom Einkaufen. Es war ein ganz normaler Frühabend im Winter. Nichts deutete auf diese Bewusstwerdung hin. Es war nicht mal besonders düster.
Plötzlich wusste ich nicht nur, ich fühlte es bis in die letzte Pore meines Körpers: Ich werde sterben.
Es wird mich nicht mehr geben. Eines Tages. Jeder weiß, dass er oder sie einmal sterben wird, doch es ist ein enormer Unterschied, ob man diesen Gedanken an sich heranlässt, oder nur davon weiß.
Mir raubte dieser Gedanke den Atem. Ich stand auf dem Netto-Parkplatz und nichts war wie ein paar Sekunden vorher. Um mich herum lief alles seinen gewohnten Gang, Autos parkten, Menschen gingen einkaufen. Und ich musste sterben.
Ich muss sterben
Eines Tages, vielleicht heute noch, oder morgen oder in ein paar Jahren. Egal, was danach würde, ich wäre nicht mehr so, wie ich jetzt bin. Ich fühlte mich augenblicklich einsam.
Diesen Weg gehen wir alle allein. Genauso, wie wir den Weg in diese Welt hinein ebenfalls allein gehen. Ich muss sterben. Was bitte hat angesichts dessen noch einen Sinn?
Das war der nächste Gedanke.
Ich lief benommen nach Hause und ließ die Einkaufstüten in der Küche stehen. Dann rollte ich mich auf dem Sofa zusammen und fühlte mich elend. Stirbt ein geliebter Mensch, ist der Schmerz nah, brennend, entsetzlich…wie ein Loch, das man uns gewaltsam ins Herz reißt.
Den eigenen Tod vor Augen, fühlte ich Trauer und Verzweiflung. Mir fiel auf, wie sehr ich dieses Leben liebte. Mit all seinen Höhen und Tiefen. Wie ich nichts davon missen wollte. Nichts davon. Egal, wie schmerzvoll es schien.
Trauer und Verzweiflung
Den Tod vor Augen, machte nur noch eines Sinn für mich: Leben.
Doch was ist das? Heißt das frühmorgens aufstehen und zu einer Arbeit hetzen, die uns nicht glücklich macht? Deren Sinn wir anzweifeln und uns immer wieder mal einreden, es müsste sein, wir hätten keine andere Möglichkeit?
Heißt das Eigenheimkredit und Rente, Ikea und Pauschalurlaub, I-Phone hoch sieben und den neuesten Mac, das geilste Auto und die coolste Klamotte? Ist das Leben?
Zu nehmen, was uns angeboten wird, statt uns selbst zu fragen, was wir wollen?
Wollen wir das alles? Wollen wir wohltemperierte Räume, oder die Hitze der Sonne auf der Haut? Wollen wir uns vor Erkältung schützen oder Regen auf der Zunge und das nasse Haar im Gesicht spüren? Wollen wir uns hellwach und gespannt bis in die Haarspitzen erleben? Oder unsere kostbare Zeit vor dem Fernseher/ Facebook/Instagram/Twitter… verschwenden?
Leben heißt alles zulassen, alles spüren
Wollen wir unsere Herzen einzäunen oder grenzenlos, aus voller Seele lieben? Wollen wir uns vor dem Leben bewahren, wie eine kostbare chinesische Vase, oder uns an die Welt verschenken und verströmen wie die lebendige Fülle der Natur?
Die neuen Räume, die sich in uns auftun, wenn wir mit wildfremden Menschen sprechen, wenn wir uns annähern, wenn wir uns gegenseitig herein lassen, statt in starren Floskeln aneinander vorbei zu gleiten. Unbemerkt und lautlos…
Und? Wie geht’s? Danke, gut. Muss ja. Schlechten Leuten geht’s immer gut. Haha. Und selbst? Ja, man lebt, man lebt…
Das Leben töten heißt für mich, es festhalten zu wollen.
Es kontrollieren zu wollen, durchzuplanen, einzukapseln, in Paragraphen zu meißeln und in Versicherungs – und Scheidungswert einzuteilen.
Wir brauchen kein Vertrauen
Wir müssen uns nicht vertrauen oder aufeinander verlassen können. Wir müssen bereit sein jeder Zeit angemessen reagieren zu wollen. Ist etwas traurig, dann weine! Ist etwas ungerecht, dann sag es! Ist etwas fröhlich, dann lache! Leben heißt allzeit wach, aufmerksam und in alle Richtungen offen zu sein und sich selbst zu spüren. Leben heißt verletzlich sein und sich auszudrücken mit allem, was erscheint. Das ist lebendig, das ist natürlich.
Das ist pures Leben.
Seit diesem Abend auf dem Sofa, bin ich auf der Reise zu mir selbst. Es ist ein steter
Prozess. Sich des eigenen Todes gewahr zu werden ist keine leichte Sache. Die
Gefühle der Trauer, der Verzweiflung, die dabei entstehen, brauchen Raum und
Zeit. Die wollen erstmal verarbeitet werden.
Dazu müssen wir uns aber eine Chance geben. Wir müssen auftauchen unter der
Kuscheldecke und uns schutzlos unserer Angst vor dem Tod und der Einsamkeit,
die damit einhergeht, stellen. Wir müssen aufhören zu verdrängen.
Dann erst befinden wir uns auf der Reise zu uns selbst, was nichts anderes heißt,
als sich des gegenwärtigen Momentes bewusst zu sein. Hier und Jetzt passiert das Leben. Nicht gestern, nicht morgen. Was fühlst Du jetzt? Gerade in diesem Augenblick? Das ist die Erfahrung, die Du gerade machst! Leben heißt Erfahrungen machen. Sonst nichts. Sonst gar nichts.
Wie befreiend, nicht?
Wir machen nur Erfahrungen –
ohne Sinn und Zweck
Welche Erfahrungen machst Du?
Kürzlich habe ich die Erfahrung gemacht, eine Hornhautverletzung am Auge zu haben. Ich weiß nun, wie es sich anfühlt links milchig und rechts scharf zu sehen und was das mit der Welt vor meinen Augen macht und mit meinem Inneren…Ich habe meine Hornhaut gespürt!
Es war sehr schmerzhaft.
Ein verzichtenswertes Erlebnis? Ja, hätte ich früher auch gesagt, als ich noch dachte,
ein gutes Leben heißt möglichst glücklich und ohne Schmerzen zu sein. Doch jetzt weiß ich:
Es ist, wie es ist. Wir taumeln haltlos von einer Erfahrung zur nächsten. Die Kunst ist, sich
darin fallen zu lassen und aufzugehen in dem, was ist. Dann werden wir selbst zum Fluss des Lebens und fließen nun mehr statt zu taumeln und finden darin Sicherheit und Frieden.
Ja, wir werden sterben. Eines Tages. Es liegt aber an uns, ob es ein verzweifeltes Festhalten wird, oder eine weitere Reise, ganz für uns selbst, in unbekanntes Land.
In Verbundenheit, Deine Nicole
Die Inspiration zu diesem Artikel verdanke ich Silke,
vom Blog „In lauter Trauer“. Sie lud mich
ein, einen Artikel zum Thema Trauer zu verfassen.
Vor 4 Jahren hatte sie ganz plötzlich ihren Lebenspartner verloren. Um mit ihrer lauten Trauer umzugehen, rief sie ihren Blog ins Leben.
Am 27. Februar 2017 wäre Julians 33. Geburtstag gewesen. Zu diesem Anlass hat Silke über 70 Blogger eingeladen, sich mit einem Artikel über die Facetten von Trauer auseinanderzusetzen. Ich finde Silkes Einsatz für
eine bewussten Umgang mit Tod und Trauer bemerkenswert und lade Dich hiermit ganz herzlich ein, auf Ihrem Blog weiter zu lesen: Hier klicken.