Wir wollten eigentlich auf eine Feier gehen. Doch als Sunnie die „Zauberpilze“, wie er sie nannte auspackte, waren wir alle neugierig. Aufgedreht und angeheitert, wie wir waren, wollten wir sie unbedingt ausprobieren. Draußen war es Spätsommer und um zehn Abends schon dunkel.
„Aber ich hab Angst vor halluzinogenem Zeug“, warf ich noch halbherzig ins Feld, doch Sunnie winkte ab. „Entspann‘ Dich Nicolina, dann ist alles gut.“
Meine beste Freundin und ich waren Anfang Zwanzig und Sunnie und Mick, unsere jeweiligen Freunde, ein paar Jahre älter. Wir verbrachten damals viel Zeit zusammen und schlugen uns öfter mal aber liebten uns meistens. An diesem Abend sollte ich eine Überraschung erleben, an die ich mich jetzt, 20 Jahre später noch immer erinnere.
Ich sehe noch die kleine Wohnung vor mir, in der Sunnie damals lebte. Mit Socken und zwei Farbtöpfen hatten wir seine Wohnzimmerwand „gestrichen“. Überall hingen oder lagen skurrile Gegenstände und Fotografien. Er war ein begnadeter Fotograf. Die Plastikmöwe in seiner Küche und der Hummer im Wohnzimmerregal hatten es mir besonders angetan. Und es war immer ein wenig düster dort. Manchmal spüre ich noch die kreative und sexuell aufgeladene Energie, die uns durchströmte, wenn wir drei Uhr nachts Fotos machten oder mit Hi8 Kamera dadaistische Filmchen drehten oder auf dem Keyboard eigenartige Klänge improvisierten.
Ich war ständig verliebt…
Natürlich meistens betrunken und bekifft. Damals wusste ich noch nichts davon, in welche Tiefen man vordringen kann, wenn man nüchtern ist. Ich hielt es für cool und künstlerisch im Marihuana Rausch in farbenfrohe Bilderwelten einzutreten. Diese Welten wirkten wie ein Einbruch in irreale Dimensionen und ich schrieb oft bis zum Morgengrauen Gedichte von Störchen, die ironisch von Wänden kletterten, um auf der Linie des Raumes einen Tanz ohne Mitte aufzuführen…
Und ich war ständig verliebt. Für mich bedeutete Verliebtsein einzutauchen in die abgründigsten Tiefen der Sehnsucht. Sei es ein Berufsschullehrer, der mich mit seinen dunklen Augen und wilden Haaren um den Verstand brachte, oder ein blonder Mitschüler, der mich mit draufgängerischen Eskapaden innerhalb und außerhalb der Umschulung in Atem hielt.
Ob ich gebunden war, oder nicht, ich war immer verliebt. Daraus schöpfte ich Lebenskraft, es war mein Lebendikum, mein Austritt aus der gewöhnlichen Welt, in die Welt von Traum und Vorstellung. In der es mir so viel besser gefiel. Erst durch einen Anderen konnte ich mich spüren. Es war mein tiefster Schmerz, mein brennendstes Glück und mein bodenlosester Abgrund. Ich lebte vollständig im Drama meiner Vorstellungen und liebte es. Und hasste es natürlich auch. Dazwischen gab es wenig.
Ich lachte bis mir die Tränen kamen
Als der süßliche Geschmack der Psilos auf meiner Zunge brannte, fühlte ich es sofort: Eine Leichtigkeit erfasste mich, wie ich sie noch nie gekannt hatte. Ich musste lachen. Linni auch.
Ich sah in ihre hellblauen Augen und gab ihr den Psilo-Joint weiter. Ich fiel in zwei Diamanten, die sich wie kleine Schicksalsräder um eine schwarze Mitte drehten. Ihre Augen fixierten mich durch den dichten weißen Rauch, der sich zwischen uns in den Raum hinein webte. Ich konnte meinen Blick gar nicht mehr von ihr abwenden. „Was schaust Du so?“, fragte sie mich und ihre Stimme klang so glasklar und flötend wie die Stimme einer Schwanenkönigin.
Ich lachte bis mir die Tränen kamen, so schön und lustig fand ich das und steckte Linni damit an. Mick saß neben Sunnie. Sie starrten uns beide an, als wären wir verrückt geworden. Als ich sie so sitzen sah, kamen sie mir so grobschlächtig vor, als säßen da zwei Metzger, die ätherische Feenwesen anstarrten wie etwas extrem Fremdartiges, das sie mit ihren grobmaschigen Gehirnen einfach nicht begreifen konnten.
Als ich wieder zu Linnie sah, hatte ich die Metzger schon vergessen. Linnie war so schön wie ich sie noch nie gesehen hatte. Frauen fand ich sehr oft spannender und interessanter und viel schöner als Männer, aber ich konnte mich nie in sie verlieben. Ich empfand das oft als Gefängnis und habe es sehr bedauert.
Bis zu diesem Moment, als ich Linni in die Augen sah und sich wie auf Kommando eines heimlich dirigierenden Schwanengenerals, unsere Lippen trafen. So etwas Weiches, Süßes, Wolkiges und Sinnliches hatte ich noch nie zuvor gespürt. (Und auch nie wieder danach.)
Wir waren vollkommen ins Küssen versunken
Unsere Zungenspitzen spielten miteinander wie tanzende Libellen, als würde nichts anderes mehr auf der Welt existieren. Wir waren vollkommen ins Küssen versunken.
Das Haus hätte einstürzen können und wir hätten es nicht gemerkt.
Es war so süß, feucht, warm, zärtlich und leicht, dass ich augenblicklich verstand,
was es bedeutet, wenn davon gesprochen wurde, dass das Grobe
zum Feinstofflichen aufsteigt.
Ich fühlte, was Wolken fühlen, durch die der Regen fällt oder Bussarde, die durch
die Lüfte schweben, mit dem Wind unter den Federn…
Wir sahen uns erstaunt und atemlos in die Augen, küssten unsere Gesichter, lachten und
fühlten unsere Hände, Arme unsere Haut.
Wir waren ergriffen von Sinnlichkeit.
Weder Linni noch ich waren darauf gefasst und so ließen wir uns überraschen von der Wirkung dieser Pilze, (die auch ganz anders wirken können) und hatten absolut keine andere Wahl als mitzuspielen. Wir folgten unsere Händen, unseren Mündern und unserem Atem so unschuldig wie Kinder einem Ball folgen. Wir ließen uns ein auf uns selbst und den Augenblick.
Glaub Dir nicht alles, was Du Dir erzählst…
Ich erinnere mich deshalb heute noch daran, weil ich verstanden habe, was mir die Zauberpilze an diesem Abend sagen wollten:
Glaub Dir nicht alles, was Du Dir erzählst. Halte Dich nicht fest an den unsichtbaren Gitterstäben Deiner täglichen Gedanken. Rüttle öfter mal an Deinem „So ist das!“ und
„So bin ich!“, dann kannst Du was erleben!
Ja, dann kannst Du was erleben. Es geht nicht um Drogen, auch wenn sie oft eine Abkürzung zu sein scheinen, aber leider auch unangenehme Nebenwirkungen haben können.
Es geht um eine Haltung. Dir selbst und dem Leben gegenüber. Glaubst Du, mit 30, 40, 50, 60, 70… Jahren steht alles schon fest? Glaubst Du, es gibt keine Überraschungen in Deinem Leben mehr? Oft glauben wir nur offen zu sein, aber heimlich hat er sich in uns ausgebreitet, dieser Schleier, der sich auf alles legt und die Neugier zudeckt und die Sinne abstumpft und die Annahme kultiviert schon alles erlebt zu haben, was für uns scheinbar vorgesehen war…
Der Schauer, der über meinen Rücken flieht…
Ich erwische mich tatsächlich heute noch dabei, dieses Gefühl zu erhaschen…diesen Schauer, der über meinen Rücken flieht, wenn ich spätnachts auf den Balkon gehe und die klare, kühle Luft auf meinem Gesicht fühle, die Augen schließe und die Ungewissheit spüre,
die hinter Allem liegt.
Damals hat mich der Kuss meiner Freundin so überrascht, dass ich spürte, wie selbst errichtet mein Gefängnis ist. Und ich spürte, wie frei die Liebe ist, wie frei ihr Spiel ist, was Unschuld wirklich bedeutet. Sie bedeutet Freiheit und das völlige Aufblühen im Hier und Jetzt ohne Angst, ohne Bedenken…Im Folgen dessen, was sich gerade eben zeigt, ohne diesem unmittelbaren Erleben so ein eingrenzendes „Das bin ich“ und „Das bist Du“ entgegen zu halten…
Manchmal erkennen wir erst im Flug, was es bedeutet im Gefängnis zu sitzen.
Und manchmal können wir durch den Nebel erkennen, dass die Tür schon die
ganze Zeit offen steht.
In Verbundenheit,
Deine Nicole
Vielleicht hast auch Du eine Erinnerung, die Dir damals eine Erkenntnis eröffnet hat, die heute noch nachwirkt? Oder die Du heute erst in der Lage bist zu verstehen? Vielleicht hast Du Lust sie in einem Kommentar zu hinterlassen? Ich freu mich aber auch einfach über Feedback. 🙂