Den inneren Weg zu beschreiten bedeutet für mich, die Bereitschaft zu entwickeln, in höchster Klarheit sehen zu wollen, was sich in mir, als Ich, ereignet.
Wie ein unvoreingenommener Zuschauer sich auf ein Theaterstück oder einen Film einlässt, geht es mir darum, zu erkennen, was hier in mir, wirklich passiert.
Die meisten von uns leben nach ihren Selbstbildern. Wir stellen uns häufig eher altruistisch, als egoistisch dar, eher gut, als böse. Darin taktieren und manipulieren wir nicht, wir gehören zu den Guten. Meistens haben wir moralische Prinzipien und lehnen abgrenzende, verletzende, hässliche und unangenehme Verhaltensweisen und Empfindungen ab.
In unseren beachtenswerten Vorstellungen von uns selbst, bewohnen wir den hellen, lichten, den schönen und aufgeräumten Flügel unseres Schlosses und lassen den sanierungsbedürftigen, heruntergekommenen, dunklen, miefigen und gefährlichen Flügel abgeschlossen und unbetreten. Da gehen wir nicht hin. Der hat mit uns nichts zu tun.
Der dunkle Keller lebt!
Aber es gibt ihn. Und er ist quicklebendig. Wir haben jedoch so perfekt gelernt ihn nicht wahrzunehmen, dass wir die nicht gelebten Anteile unseres Selbst oft als körperlichen Ausdruck erfahren. Sie finden nicht mehr in reiner Gedankenform ins Bewusstsein und haben sich andere Wege des Ausdrucks gesucht. Schmerzen, Verspannungen, energetische Blockaden, Zähneknirschen, Hautprobleme … die Ausdrucksformen sind vielfältig.
Auch wenn wir es oft nicht wahrhaben wollen, sind wir sowohl gut als auch böse. Wir sind wohlwollend und verletzend, wir sind jede erdenkliche Empfindung und ihr genaues Gegenteil in Einem. Jeder Mensch ist zu allem fähig, wenn die Anlage aktiviert wird. Manche Menschen richten die aggressiven, unkultivierten Impulse nach innen, manche nach außen.
Du bist grundsätzlich zu allem fähig. Und ich bin es auch. Auf dem inneren Weg geht es für mich jedoch nicht allein darum, diese ungelebten Schattenanteile zu erkennen und zu integrieren. Das ist natürlich unerlässlich und unumgänglich, um weiter gehen zu können. Aber es ist nicht alles.
Uns anzunehmen, wie wir sind, mit unserem Licht und unserem Schatten, ist eine sehr kluge Idee, die zu großer Erleichterung führen kann: Endlich lasse ich mich in Ruhe, endlich ziehe ich nicht mehr an mir herum, endlich muss ich keine Fassade mehr aufrechterhalten.
Ich nehme mich, wie ich bin
Ich kann mich hier so nehmen, wie ich bin. Nun kann ich dem Theaterstück folgen und bekomme alles mit, was auf der Bühne passiert. Ich fange infolgedessen an, mich zu berücksichtigen und übergehe meine Bedürfnisse nicht mehr. Ich nehme mich endlich ernst.
Eine neue Welt eröffnet sich mir. Eine umfassende Welt voller Überraschungen. Ich brauche keine Deckel mehr auf brodelnde Töpfe zu halten, jetzt können sie ihren Inhalt verströmen. Ich halte das aus, es gehört zu mir. Ich habe keine Angst mehr vor mir und empfange mich in jeder Gefühlslage selbst.
Ich stehe mit beiden Beinen fest auf meinem Grund. Das bin ich. Ich brauche keine Erklärungen mehr, warum und weshalb das so ist. Hier praktiziere ich Selbstliebe durch die unerschrockene und unvoreingenommene Annahme all dessen, was sich in mir zeigt. Ich halte nichts mehr unter Verschluss und folge mir selbst bedingungslos. Viele Blockaden können sich so entspannen und sogar lösen.
Unterdessen haben das viele Menschen erkannt. Und manche praktizieren es auch. Für einige ist es jedoch eine Lebensaufgabe, denn sich selbst zu akzeptieren kann vollkommen unmöglich erscheinen. So unmöglich, dass es einen großen Willen, Raum und Verständnisarbeit erfordert, überhaupt erst in die Nähe dessen zu gelangen, was es heißt, sich in Ruhe zu lassen. Für jene Menschen ist der innere Weg hier zu Ende.
Der Weg ist nie zu Ende
Doch eine weitere Erkenntnis, die sich mir unterwegs erschlossen hat, ist, dass der Weg nie zu Ende ist. Nie. Solange Menschen atmen, solange sie lebendig sind und den Ruf nach sich selbst verspüren, sind sie auf dem Weg.
Ich glaube, dass selbst Buddha nach seinem Erkennen noch auf dem Weg war, denn die Tiefe der Erkenntnis scheint mir ebenso unermesslich, wie das Ausmaß des für uns Menschen sichtbaren Universums. Es entfaltet sich vor unseren Augen – offenbar parallel zu unserer Erkenntnisfähigkeit.
Und was treibt uns an? Unser Lebenswille, der nichts anderes ist, als die höchste Form von Inspiration. Das Leben inspiriert sich selbst, als zutiefst kreatives Perpetuum mobile…
Selbstliebe ist ein Tor in die Tiefe unserer Dimension als Mensch. Wir sind in der Lage mit klaren inneren Augen zu sehen wer wir sind, wenn wir die Ebene von Gut und Böse, von Richtig und Falsch, von Pro und Contra als pure Ebene erfassen und nicht als das Ganze. Das gelingt uns durch Selbstannahme. Durch sie lernen wir uns wahrnehmend in die Ereignisse zu entspannen, statt uns emotional an ihnen festzubeißen und für jede Alternative blind zu sein.
Selbstliebe ist ein Tor in die Tiefe
Dann kommen wir in Verbindung mit einer Kraft, die wir nicht wahrnehmen können, solange wir zu beschäftigt sind mit den Ereignissen auf unserer Lebensbühne.
Diese Kraft ist der Hintergrund all dessen, was sich in uns ereignet. Wenn das deutlich wird, können die Ereignisse, zunächst in Form von Gedanken, die Schwere ihrer Bedeutung verlieren.
Ich erkenne mich als der unermessliche Raum, in dem sich mein formelles Leben ereignet.
Alle Gedanken, Empfindungen, alle Impulse kommen in mir zu sich. In mir als dieser Raum, das Trägermaterial meiner Welt. Meine Aufmerksamkeit darf sich ausweiten, darf den Blick über den Tellerrand meines üblichen Erlebens hinausheben.
Welch ein Staunen! Welch ein AAAH! Stell Dir vor, all das, was Du, im problematischen Sinn, für wichtig und bedenkenswert gehalten hast, verblasst angesichts des Wunders des Lebens, das nun in Dich Einzug halten darf. Wenn Du nicht mehr an Dir als Problemkind, das sich selbst erlösen muss, festhältst, kann der Blick frei werden für das Unfassbare, das Dich umgibt.
Die Überwältigung kann groß sein, wenn Du fühlst, dass diese Unfassbarkeit nicht von Dir unterscheidbar ist, denn nur in Dir wird sie sich ihrer selbst gewahr.
Du kannst von jedem Punkt aus
in die Tiefe starten
Es völlig egal, wo Du gerade bist. Du kannst prinzipiell von jedem Punkt aus in die Tiefe starten. Ob in Deinem Garten oder auf dem Schrottplatz, ob im Büro oder am Strand…
Es bedarf jedoch einer tiefen Entspannung in Dich selbst, um die stille Heiterkeit des Lebensflusses zu erspüren. Es liegt eine mühelose, ganz natürliche Haltung darin, die sich selbst trägt. Du erlebst Dich Dir selbst gemäß als Einklang.
Hier liegt die wurzellose Wurzel, an die wir gelangen können, wenn wir uns selbst als Wirklichkeit erfahren wollen. Wir finden die Wahrheit über uns nicht im Einen und auch nicht im Anderen. Auch wenn sowohl das Eine als auch das Andere in uns wirkt. Wir finden die Wahrheit, über dies hinaus.
Wir sind die Empfänger des Einen und des Anderen. Die Quelle aus der wir entspringen, empfängt sich in uns. Das ist so, als würden wir bis zum Rand des Universums blicken und uns unendlich im Spiegel betrachten.
Wie unfassbar klein erscheint hier der Punkt, den wir im ganzen Gefüge von Milliarden Galaxien darstellen! Und doch tritt dieses grandiose Gefüge nur in dem einen auffindbaren Punkt zutage, in dem es sich zeigt. Es erscheint in mir und in Dir.
Der innere Weg in die Tiefe unseres Selbst ist unendlich. Er kann sehr schmerzhaft sein und ebenso endlos schön. Er lässt Dich vergessen, wer Du dachtest zu sein und offenbart Dir mehr, als Du Dir jemals, auch nur in Ansätzen, erträumen kannst.
In Verbundenheit, Nicole