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Im Laufe meiner Bewusstwerdung sind mir zwei spirituelle Wege zum Verständnis der wahren Natur unseres Menschseins begegnet. Zwei Wege, die einander – ähnlich wie Wasser und Eis – zu widersprechen scheinen. Beide unterscheiden sich fundamental, sind im Kern aber eines und führen zum selben Ergebnis. Ich habe für mich eine Reihenfolge der Beschreitung dieser Wege erkannt, die mir sinnvoll erscheint, weil sie natürlich und
fließend ist.
Ich nenne sie den Weg hinein und den Weg hinaus. Letztendlich entspricht die Vereinigung dieser beiden Wege – die finale Erkenntnis der Unteilbarkeit von Bewusstsein – der Integration dieser Verständnisebenen in ein Realitätsmodell, das sich selbst trägt: in der und als bewusste(n) Anwesenheit. Ich bin. Bewusstsein, das sich selbst erfährt. Eine unteilbare Gleichzeitigkeit von erfahrender Instanz und Erfahrung selbst.
Es ist sehr wichtig, bei der inneren Arbeit mit sich selbst und auch mit anderen Menschen zu erfühlen und zu erkennen, wo ich selbst und der andere in unserem Selbstverständnis und dem, was wir als Leben bezeichnen, stehen. Ansonsten würden wir – wie Hase und Schlange – aneinander vorbeireden.
Nicht jede Lehre passt zu Dir
Die Erhellung Deines Weges zu einem Verständnis, das Dir zu einem integrierten Leben verhilft, hängt direkt davon ab, wo Dein bisheriges Realitätsmodell angesiedelt ist. Es passt nicht jede Lehre und jede Richtung zu Dir.
Jeder Mensch, zumindest in der westlichen Welt, kommt in einer Einseitigkeit zu sich, die direkt vom materialistischen Weltbild beeinflusst ist. Wir begreifen die uns umgebenden Dinge und uns selbst als gegeben, als materiell, fest und real. Wir erfahren uns als Weltempfänger: Ich bin hier und Du bist dort. Du und ich sind nicht dasselbe, die Welt geschieht mir. Ich existiere in einer objektiven Welt und reagiere subjektiv auf sie.
Weltbild und Wertesysteme werden in unsere heranwachsenden Geister installiert und sind die Richtschnur, an der wir uns, zumeist lebenslang, orientieren. Wir nehmen auf, wie die Eltern und nahen Bezugspersonen mit uns umgehen, ihre Neurosen und ebenso alles, was sie für richtig und falsch halten und was sie glauben, das uns hilft in dieser Welt zu überleben.
Die Realität infrage stellen
Sobald diese Realität, meistens durch erfahrenen und bewusst gewordenen Schmerz, einen Riss bekommt, kann sie infrage gestellt werden. Wir erfahren die Nichtübereinstimmung zwischen unserem Selbstgefühl und unserem Werte- und Weltsystem. Schmerz ist der Hinweisgeber auf diese Nichtübereinstimmung.
Jetzt machen sich viele auf die Suche nach einem Verständnis, das uns, einfach gesagt, in die Übereinstimmung von Geist und Gefühl bringt. Auf der Suche nach der Wirklichkeit erkannte ich für mich selbst bald die Begrenztheit von Psychologie und Psychotherapie und wendete mich spirituellen Lehren und Lehrern zu.
Ohne auf die jeweiligen Traditionen einzugehen, will ich zwei direkte Verständnisebenen schildern, die mir selbst als sehr wertvoll und wirkungsvoll bei der Bewusstwerdung dessen, „wer wir wirklich sind“, erscheinen.
Unerträglicher Schmerz oder unstillbare Neugier
Wir übersehen uns selbst so lange, bis entweder der Schmerz unerträglich zu werden scheint oder aber, und das war in meinem Leben eher der Fall, die unstillbare Neugier und Freude an der Entdeckung uns in der Erkundung der Matrix, die dem Leben zugrunde liegt, voranziehen.
Es gibt Lehren, die direkt auf das, was wir final sind, hinweisen. Hier wird alles verneint, was “ich bin“ (Neti Neti) und auf die grundlegende Eigenschaft von Bewusstsein hingewiesen, die selbst nichts ist. Über die also nichts ausgesagt werden kann. Bewusstsein als die pure Fähigkeit Erfahrungen zu machen, als jene Instanz, die in der dimensionslosen Ewigkeit des Jetzt sieht, die daher selbst nicht sein kann, was sie sieht.
Hier findet das Unsichtbare als Träger des Sichtbaren ins Bewusstsein. Hier wird deutlich, dass alles, was ich sehe, nicht so ist, wie es mir erscheint. Die Materie zerfällt zu Geist. Die Quelle aller Wahrnehmung – das Sehen selbst – wird sichtbar.
Ich kann nicht von mir lassen, wenn ich mich nicht fühle …
Meiner Erfahrung nach kann diese Direktheit zwar alle Fenster öffnen, doch die Integration dieser fundamentalen Erkenntnis findet im Leben statt. Diese Integration kann nicht bzw. sehr schwer stattfinden, wenn ich ein Ich-Empfinden infrage stellen soll, das ich noch gar nicht entdeckt habe. Die Erfahrung mit vielen spirituell Suchenden, die selbst nach 20, 30 Jahren nicht in ihrem Leben angekommen sind, weil sie in einer Selbstverneinung leben, die eher in die Depression als in die Glückseligkeit führt, spricht für sich. Die Fenster schließen sich wieder, wenn ich nicht in die Anbindung an das Leben zurück finde.
Warum also nicht zuerst rein und dann raus? Das entspricht eher lebendiger Natürlichkeit als der umgekehrte, direkte Weg.
Der Weg hinein bedeutet, ich widme mir selbst als die Person, die ich in dem mir bekannten und greifbaren Leben bin, alle Aufmerksamkeit. Ich verwirkliche eine Selbsterlaubnis, die in der Lage ist, meinen Bewusstseinsraum so zu erweitern, dass der Weg hinaus, als die Infragestellung dessen, was ich als „mich selbst“ empfinde, erst möglich wird.
Einem materialistisch geschulten Normalbewusstsein ist es kaum möglich zu erfassen, was nur einem erweiterten Bewusstsein zur Verfügung steht. Ähnlich der Zeichentrickfigur, der es nicht möglich ist eine 3D-Animation zu sein. Oder vielleicht einfacher: Ich kann einem Kind erst begreiflich machen, was es heißt, dass sich die Erde um sich selbst und die Sonne dreht, wenn es die Kapazität hat halbwegs zu erfassen, was die Erde, die Sonne und Zeit sein sollen.
Was ist Selbsterlaubnis?
Selbsterlaubnis ist eine Revolution. Eine leise, eher stille Revolution, die nach und nach im Bewusstsein vieler Menschen ankommt. Es geht darum zu verstehen, dass ich mich selbst als die Gefühle, die ich fühle (bzw. zumeist unterdrücke) untergrabe, wenn ich mich weiterhin nach angelernten Wertesystemen richte. Es geht darum zunächst erstmal zu verstehen, dass ich überhaupt unterdrückt bin. Dass ich unter einem System von Urteilen begraben bin, die mir in den wenigsten Momenten bewusst sind, weil die Identifikation damit, in aller Regel, noch so stark ist, dass ich mich für die urteilende Instanz halte.
„Ohne den Antreiber in mir würde ich nur auf dem Sofa liegen und nichts mehr auf die Reihe bekommen“ – das ist ein Satz, der in diesem Zusammenhang fast immer kommt. „Ohne den inneren Richter würde doch jeder machen, was er will. Wo kämen wir da hin?“ geht in die gleiche Richtung. Hier wird nicht erkannt, dass die Sehnsucht nach dem Sofa der Sehnsucht nach Entspannung und Freiheit vom Druck jenes Antreibers entspricht, der den Stress erst erschafft. Ein in sich ruhender, mit sich selbst verbundener Mensch ist von Natur aus energiegeladen und in seiner Schaffensfreude.
Doch das Misstrauen dem Menschen an sich gegenüber ist das Ergebnis bereits verinnerlichter Urteile und Einschätzungen, die nicht der eigenen Erfahrung entsprechen, sondern übernommener Ansichten, die noch nie überprüft wurden.
Das ganze Spektrum Deiner Gefühle
Eine weitere Idee, die der Notwendigkeit des rein physischen Überlebens geschuldet ist, ist die Idee, wir müssten die guten Gefühle fördern und die schlechten Gefühle loswerden. Es ist ein Dogma, das als so tiefer Automatismus in uns Menschen wirkt, dass es oft vieler Jahre bedarf, um genug Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass wir das Leben ausschließlich dann vollständig und ganzheitlich erleben können, wenn wir in die Lage kommen, das ganze Gefühlsspektrum in uns selbst anzuerkennen und wahrzunehmen. Hier ist Bewusstsein so erweitert, dass es sich darüber bewusst wird, wie sehr es sich von sich selbst abschneidet, wenn es diese Trennung von „sich“ als der vollständige Regenbogen seiner Erfahrungsmöglichkeit vollzieht.
Es ist, als würden wir nur die Hälfte unserer Möglichkeiten erleben, und diese sind sogar noch verzerrt, weil sie auf einem einseitig bewirtschafteten Boden wachsen …
Zunächst also ist es absolut notwendig Selbstliebe zu praktizieren. Selbstliebe bedeutet zuallererst, mir des Wesens bewusst zu werden, das unter der Abspaltung seiner Ganzheit als Gefühlsspektrum leidet. Erst wenn das deutlich erkannt und Selbsterlaubnis gelebt wird, kann Bewusstsein erkennen, dass alles, was es wahrnimmt, einschließlich seiner Gefühlsinhalte, in ihm selbst stattfindet. Bewusstsein ist so gesehen immer mehr als seine Erscheinungen.
Es ist ein Bewusstseinsraum, der den Hintergrund für „die Welt“ bildet. Ich kann auch sagen: Ich (Bewusstsein) empfange mich selbst in Form meiner Gedanken und Gefühle. Erst durch Selbsterlaubnis wird diese Erkenntnis möglich. Jetzt wird deutlich, dass ich nicht allein der materielle Körper bin, der Bewusstsein hat, sondern ebenso der Raum, der Bewusstsein ist. (In dem der Körper erscheint.)
Hört es hier auf?
Hier kann der Weg aufhören und ich kann für den Rest meines Lebens Selbstliebe praktizieren – das wäre völlig legitim und allein dadurch bereits eine nie gefühlte Erleichterung, Erfüllung und Erweiterung meiner persönlichen Möglichkeiten.
Oder aber ich gehe weiter und werde zum Erforscher, zur Erforscherin meines Lebens. Ich beginne wahrlich zu entdecken, was Leben und Wirklichkeit bedeuten. Ich nehme die Spur auf, die jene Widerstandslosigkeit gegen das volle Spektrum meiner Gefühle legt:
Wenn ich aufhöre zu manipulieren und mich darzustellen, als Folge der Bereitschaft die Urteilssysteme in mir fallen zu lassen und mich selbst als meine Gedanken und Gefühle anzunehmen und sein zu lassen, zeigt sich das, worin alles, einschließlich meiner selbst, stattfindet: im Bewusstsein selbst.
Der aufgelöste Widerstand, der allein dem Glauben an den materiellen Ursprung der Welt entspringt, gibt die Sicht auf mich selbst als Raum, in dem (meine) Gedanken und Gefühle stattfinden, frei.
Der Weg „raus“ …
Jetzt ist der Moment gekommen, an dem der Weg raus sinnvoll wird. Jetzt kann es nach und nach durch Hinterfragung und dem (Ver-)Folgen der wirklichen Erfahrung, auf die meine Gefühle und die Richtung meiner Aufmerksamkeit hinweisen, geschehen, sodass sich die Empfindung dafür, was ich als „mich selbst“ empfinde, verschiebt.
Von einem kontrahierten, engen und begrenzten Ich-Gefühl (dem puren Widerstand als vermeintlichem Selbstschutz) erweitere ich mich hin zur Erfahrung dessen, was überhaupt Erfahrungen macht. Jene Instanz, der alles entspringt. Die immer präsent ist und so gut wie immer übersehen wird.
Urvertrauen. Liebe. Gott. Sein.
Hier wird also deutlich – und das ist eine ebenso fundamentale Erkenntnis, als würden wir das erste Mal erfahren, dass die Erde keine Scheibe ist –, dass die Welt mir nicht geschieht, sondern dass die Welt in mir (als Bewusstsein) erscheint.
Alles ist Bewusstsein
Die Hinterfragung und Verneinung aller Erscheinungen in mir modelliert immer klarer die Wahrnehmung meines SELBST heraus. Ich bin Bewusstsein, alles ist aus Bewusstsein gemacht. Unterscheidungskraft für das, was ich bin und was ich nicht bin, wird hier geboren.
Auch hier besteht die Möglichkeit es dabei bewenden zu lassen (und die meisten Weisheitslehren enden hier auch) und die entstandene Freiheit und Leichtigkeit zu genießen und beständig wahrzunehmen, was in mir als sogenannte Konditionierung und Programmierung auftaucht, der ich nun nicht mehr folgen muss, weil ich nun Klarheit darüber habe, dass ich, grenzenloses Bewusstsein, bedingungslose Liebe – und keine begrenzte Kontraktion – sein kann. Oder aber ich gehe auch hier weiter:
Ich erkenne, was Wahrnehmung wirklich ist. Wahrnehmung ist der Schöpfungsakt selbst. Was bedeutet das? Es bezeichnet nichts anderes als die Vereinigung von Bewusstsein mit seinen Erscheinungen. In dieser Vollintegration wird gar kein Unterschied mehr gemacht. Keinerlei Trennung und Differenzierung mehr in Dir.
Einssein. Hier. Jetzt.
Alles fällt auf Dich zurück. Du wirst zum unendlichen Erfahrungsraum, der (immer wieder) eine endliche Erfahrung seiner selbst macht. Es geht wahrhaftig um Dein Leben, das Du in totaler Widerstandslosigkeit erlebst. Hier verwirklicht sich wahres Glück als das Erleben des grenzenlos bewussten Mysteriums, das durch Deine Augen sieht. Du bist die verkörperte Liebe, die sich in totaler Originalität ausdrückt und verwirklicht. Selbstverständnis und Empfindungen führen sich selbst im und als Fluss des (Deines) Seins.
Die Welt beginnt und endet mit Dir in dieser Realisation Deiner wahren Natur. Hier beginnt wahrhaftige Poesie als Ausdruck einer, mit dem Verstand nicht fassbaren Paradoxie. Du bist und bist nicht. Du erscheinst und erscheinst nicht. Du bist als der von allem entleerte Gott selbst, der durch Dich als die Erfahrung seiner selbst seine Wirklichkeit bezeugt.
Diese Poesie ist gleichzeitig eine vollkommene Prosa, die in bewusster Anwesenheit jetzt gerade auf einem Stuhl sitzt und diese Zeilen liest.
In Verbundenheit, Nicole
Willst Du mit mir zusammen erkunden, wo Dein Weg für Dich selbst liegt?
Dann erfährst Du hier mehr darüber:
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Liebe Nicole, dieser Text ist für mich besonders stark. Ich habe ihn mehrmals gelesen und einsickern lassen…. Ja, er auch ist theoretisch, aber nicht nur… Ich sehe ihn für mich im Moment wie ein Essay in (m)einem selbstgewählten (Selbst-)Studium. Ich liebe es immer mehr,mich selbst zu erforschen, alles zu entdecken, aufzudecken was gerade möglich ist. (Das schließt auch mit ein, dass ich mein Tempo, indem ich voran komme respektiere. Oftmals passiert es mir noch dass ich zwei Stufen auf einmal nehme will. )
Das, was neu für mich ist (als BEWUSSTE Erfahrung, unbewusst scheint es immer da zu sein)und was ich vertiefen möchte, ist das Gefühl von meinem inneren Raum, anders kann ich es nicht benennen . Er fühlt sich, obwohl es nicht hell ist, so wohl an, so wie eine zärtliche Umarmung oder einfach so vertraut und liebevoll. Dass es eher dunkel ist stört dabei nicht, da gibt es keine Angst, keine Befürchtungen.
Dies als kurzes Feedback mit ganz herzlichen Grüßen und herzlichem Dank für deine wertvollen Texte! Almuth