
Offen für das Kleinste - bereit für das Größte - anhören
Einfach auf dem Bett liegen und dem Regen vor dem Fenster zusehen. Dem Rhythmus der aufschlagenden Tropfen folgen. Still atmen. Selbstvergessen die wogenden Blätter beobachten, die sich im Wind bewegen …
Das ist eine meiner liebsten Beschäftigungen. Schon immer gewesen. Einfach nur aus den Augen sehen. Den Blick ganz langsam über die Wolken lenken und dann abfallen, zum ausladenden Flug eines Vogels, der in weitem Bogen die Lust am Fliegen demonstriert. Einfach da sein. Und sonst nichts.
Als Kind verbrachte ich meine Winter allein mit Büchern und sehr viel vor dem Fernseher. Die Sommer lang tobte ich mit den Freunden durch das Dorf meiner bulgarischen Großmutter. Dort hielt ich oft inne und betrachtete die hohen Pappeln am Fluss. Ihre silbergrünen Blätter in der weiß strahlenden Sonne. Wie mühelos sich die Wipfel im heißen Mittagswind mal in die eine und dann die andere Richtung neigten. Als würden sie von Jubel erfüllt nach links und rechts tanzen.
Vergessene Magie
In diesen Sommern spürte ich häufig eine leichte und gleichzeitig tiefe Stille in mir, ein leises Glück, das ich immer für mich behielt. Es war mein Geheimnis, mich oft wie ein tanzender Schleier zu fühlen, ohne Anfang und Ende, der sich in der Lebenslust eines verspielten Windes bewegt.
In den Wintern fragte ich mich immer wieder, warum es in den Filmen, die ich sah, so oft hieß, dass es Kindern vorbehalten war, Magie und Schönheit zu sehen. Erwachsene würden diese Gabe verlieren. Sie würden vergessen, was es bedeutet, die Tiere sprechen zu hören, den Geschichten des Flusses zu lauschen und sich durch eine Welt voller Wunder zu bewegen. Ich wusste nicht warum, ich sah nur überall, dass es so war.
Erwachsenen sind andere Dinge wichtig, das hatte ich beobachtet.
Streit. Das Geschehen in der Welt. Diskussionen bis tief in die Nacht. Beleidigungen. Versöhnungen. Kompromisse. Trennungen. Lügen. Versprechungen. Ewige Liebe. Hass. Geld. Politik. Lautes Wehklagen über die Ungerechtigkeit des Lebens und stille Tränen der Enttäuschung. Kinder sind wie Stolpersteine, die überall im Weg liegen. Magie und Schönheit gibt es nur im Film.
Transparentes Bewusstsein
Wir vergessen allzubald das leise Entzücken in uns. Die Stille, die allen Dingen immer wieder neu begegnet. Stattdessen tritt die Angst, die Sorge, treten Gedanken an eine Zukunft an ihre Stelle, die uns glücklich machen soll. Vor der wir uns natürlich fürchten, weil uns alle Gedanken an sie von uns wegführen. Wir vergessen einfach hier zu sein, wir vergessen das echte Glück der reinen Existenz. Die Farben verblassen, die Wunder verschwinden. Der Ernst des (Über-)Lebens stellt sich ein.
Heute weiß ich, dass Kinder, die es sein dürfen, noch transparent genug sind, um die Schönheit und Unglaublichkeit der Welt überall wahrzunehmen. Ihr Bewusstsein ist noch nicht verstellt von Gedankensystemen, die früher oder später ihre Herrschaft übernehmen. Von Konzepten über die Zusammenhänge des Lebens, die von den gleichen Gedankenkomplexen gestrickt werden, die gesellschaftliche Überlebensstrategien entwerfen.
Angstvoll vorhersehende Gedanken haben ihr Netz noch nicht verankert. Jenes Spinnennetz, das sich um das Entdeckerherz schließt, um es vor dem eigenen Erleben zu bewahren. Vor Schmerz, Ohnmacht, dem natürlichen Ein- und Ausatmen des Lebens und der Verletzlichkeit einer berührbaren Unschuld.
Die Konditionierung bestimmt die Wahrnehmung
Manche Kinder sind noch nicht angepasst, noch nicht angeschlossen an eine maschinelle Welt, die – statt zu fühlen – lieber denkt. Es ist absurd, wie sehr so viele Menschen festhalten an diesen Konzepten, und wie wenig sie sich wieder fühlen wollen. Es ist überraschend, wie groß das Ausmaß des Vergessens ist. Und die Not, die dieses Vergessen hervorbringt. Ab einem bestimmten Punkt ist es die Konditionierung, die unsere Wahrnehmung bestimmt. Die bestimmt, was wir sehen, denken und fühlen. Die Wunder verlieren sich in unseren angst- und schamvollen Gedankenlabyrinthen. Wir verlieren den inneren Raum zu sein, wer wir sind, ohne uns an eine innere Definition von Ichsein anzulehnen.
Wir haben vergessen, was es heißt, klar zu sehen und tief zu fühlen. Es geht nicht um Regression und ewiges Peter Pan-Sein. Ein Mensch, der zu sich kommt, wird nicht mehr Kind, sein Bewusstsein wird einfach wieder transparent und weniger überlagert. Es geht um uns Erwachsene, die es bevorzugen dem überheblichen Intellekt zu folgen, der abgehoben im 40. Stockwerk seines hyperschnellen Rechenzentrums über die Geschicke unseres Gesamtsystems entscheidet.
Dort oben, wo er über die Welt, die wir sind, herrscht, fehlt jede Anbindung an Schmerz, Ohnmacht oder Verletzlichkeit. Sie sind es, denen es zu Entkommen gilt. Von diesen unliebsamen Gefühlen sind wir abgekoppelt, und die Welt, die uns erscheint, ist ein direktes Abbild dieses Entkoppeltseins.
Die Verschleierung der Angst vor uns selbst
Unsere bahnbrechenden technischen Errungenschaften übertreffen bei Weitem die Entwicklung unseres Bewusstseins darüber, was es bedeutet ein fühlendes, lebendiges Wesen in einer lebendigen Welt zu sein. Unsere Technik dient dem hübschen Design unseres künstlich beatmeten Lebens und der Verschleierung der Angst vor der hässlichen Wirklichkeit unserer (vor uns selbst) versteckten Innenwelt. Ablenkung von sich selbst ist das professionelle Hobby des domestizierten Konsumenten.
Wir haben den Sinn für die Wirklichkeit verloren. Für unsere eigene Wahrheit, die sich aus unserem gesamten inneren Erleben zusammensetzt. Das wir so oft gar nicht sehen wollen. Die allermeisten Menschen sind es zutiefst gewöhnt von sich selbst abzusehen, dass sie es geradezu für egozentrisch und egoistisch halten, ihr Dasein als selbstverständlich anzuerkennen. Es ist ihnen unmöglich, sich selbst keinem inneren Bewertungssystem zu unterwerfen und damit alles, was in ihrer Wahrnehmung auftaucht, in Kategorien von richtig und falsch, gut und schlecht, gewünscht und unerwünscht zu unterteilen.
Die innere Fragmentierung ist gigantisch, und die Möglichkeiten für ein frei schwingendes Bewusstsein extrem beschränkt. Alles, was wir sehen, zeigt uns deutlich, wer wir sind: künstliche Intelligenzen aus Fleisch und Blut, die gegen sich selbst Krieg führen und diesen Krieg als die Welt erleben, ohne es mitzubekommen …
Berührbar für Dich selbst
Die Blätter im Regen beobachten. Einfach so. Die Tropfen auf der Haut spüren. Atmen. In der eigenen Nähe zu sich selbst verweilen. Das Auftauchen im Moment und das Abtauchen im Sein erleben. Dich nicht binden an Meinungen, Vorstellungen und Ideen, die sofort von Dir wegführen. Deinen Gedanken nicht auf den Leim gehen. Sie nicht mehr mitschleppen. Sie ziehen lassen. Ihre Unwirklichkeit erkennen.
Die Wirklichkeit Deines Hierseins wahrnehmen. Vollkommen berührbar sein für Dich selbst. Und damit für die Grenzenlosigkeit Deiner inneren Landschaften, die sich vor Deinen eigenen Augen spiegelt. Nicht Kind sein, aber unschuldig und frei die Dinge zu sehen, wie sie von sich aus sind. Nicht nur für wahr halten, was Du Dir dazu denkst. Die entspannte Leichtigkeit darin entdecken.
Die alten Gedankensysteme kleben wie Pech an unserem freien Bewusstsein. Der wahre Mut, den ein Mensch im 21. Jahrhundert braucht, ist es, ihnen seine Aufmerksamkeit zu entziehen und bereit zu sein sich für das Kleinste in sich selbst zu öffnen, koste es, was es wolle. Um dort das Größte zu entdecken: sich selbst als Quelle dessen, was sich ihm als Universum offenbart – sich selbst als Quelle und Ausdruck aller Erfahrung.
In Verbundenheit, Nicole
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