
Was ist Liebe? Diese Frage habe ich mir mein ganzes Leben lang gestellt. Ich habe immer nach einer letzten Definition danach gesucht. Nach einer Definition, die alles beinhaltet, was man ganz am Schluss aller Gedanken über sie sagen kann. Sowas wie eine elegante mathematische Gleichung, die alle denkbaren Denkmöglichkeiten beinhaltet, ein Prinzip, das in allem, was dem Menschen erscheint, sichtbar wird.
Das, was ich über die Liebe aus der mir größtmöglichen Tiefe oder Klarheit sagen kann ist: Liebe sieht. Liebe ist die Fähigkeit direkt hinzusehen, und nichts abzuwehren. Abwehren heißt nicht hinsehen wollen. Wenn ich bereit bin alles von mir zu sehen, ist das ein Akt der Liebe, weil damit nichts mehr im Verborgenen (im Ungesehenen, im Keller) bleibt. Es ist ein Akt der Selbstliebe, bereit zu sein, neben all den schönen Dingen, auch alle furchtbaren, hässlichen, unpassenden, niederen Gedanken und Gefühle, die in mir sind, zuzulassen.
Zulassen heißt nichts anderes als Hinsehen. Wenn ich alles Dunkle in mir zulasse, dann steigt es auf ins Licht meiner Aufmerksamkeit. Und wenn es dort sein darf, wird es hell und verliert seinen Schrecken und damit seine Dunkelheit, seine Ladung und seinen Sinn. Es löst sich darin auf.
Liebe hat keine Richtung
Liebe entscheidet sich nicht für eine Richtung, sie ist zu allem bereit. Morgens, wenn ich erwache, schlage ich die Augen auf und sehe das, was mir erscheint. Irgendwo anders schlägt jemand die Augen auf und sieht etwas ganz anderes, eben das, was ihm erscheint. Überall schlägt jemand die Augen auf und sieht. Liebe sieht durch alle Augen das, was ihr erscheint. Egal, wie schmerzvoll oder freudvoll es ist.
Die gesamte Existenz erscheint in den Augen der Liebe, die sich nicht abwendet, die hinsieht und dort, wo ihr Blick ungehindert durchdringt, wird Schönheit sichtbar. Dort, wo sie auf Widerstand trifft, fehlt ihr Licht.
Dann erkenne ich, dass ich alles Dunkle in mir nur deshalb abwehre, weil ich gelernt habe, was gut und richtig ist: Immer freundlich sein. Bescheiden. Respektvoll. Zuvorkommend. Diplomatisch. Mich selbst zurückstellen. Anderen den Vortritt lassen. Mich anbieten. Zurücknehmen. Aufopfern. Oder kämpfen, der/die Beste sein. Keinen Schmerz kennen. Es zu etwas bringen. Nützlich sein. Sicherheit bieten. Alles auf mich nehmen. Es alleine schaffen müssen …
Das Glaubenssystem der Angst
Allein das Glaubenssystem, mit dem wir alle groß geworden sind, und vor uns unsere Eltern und deren Eltern usf., erschafft erst das Dunkle und Schlechte. Es erschafft die Trennung in mir in vorzeigbar und zu verheimlichen. Das Dogma des Himmels erschafft automatisch die Hölle in mir, die in meinen unbetretenen Kellern lodert.
Liebe ist die Fähigkeit direkt hinzusehen, ohne zu urteilen. Sie ist die Nahrung der Seele, ihr Leuchten. Sie ist den Gedanken und Gefühlen eine Bühne, wie die Erde, in die der Regen fällt, die alles zum Blühen bringt, was sie durch ihre Qualität nährt. In diesem Sehen entsteht die Unterscheidungskraft von selbst, weil sich im direkten Hinsehen alles zeigt. Es bleibt nur verborgen, was ich nicht sehen will. Sie zeigt mir die Lieblosigkeit mir selbst gegenüber, die sich in unbewusster Lieblosigkeit anderen gegenüber äußert.
Und in diesem Moment bekomme ich die Wahl, die dann gar keine mehr ist: Ich entscheide mich für die Liebe. Für das Hinsehen, in dessen lichtem Feuer alles Lieblose verbrennt.
Liebe ist kein spirituelles Ringelreihen. Sie ist kein lieblicher Tanz der Engel, deren klebriger Nektar der himmlischen Vereinigung unsere irdenen Impulse und Triebe in die nächste Hölle drängt. Sie ist keine schöne Vorstellung von ewiger Glückseligkeit, die unsere kindliche Angst und Verzweiflung weiter in den unterirdischen Kellern verschlossen hält.
Sie ist keine Handlungsanweisung und kann nicht anerzogen und erzwungen werden.
Liebe ist eine Entscheidung
Liebe ist die Entscheidung alles aufzudecken, was sich vor ihr versteckt. Es ist die Entscheidung sich der Angst direkt zu stellen. Und sich unbeirrt für ihre wahre Kraft zu öffnen, für die immer anwesende Kraft. Liebe ist ein Lebensprinzip, das immer wirkt, auch ungesehen von uns. Sie ist niemals nicht vorhanden, nur weil wir sie nicht sehen können. Sie liegt allem zu Grunde und wenn sie unsichtbar bleibt, dann nur deshalb, weil wir nicht hinsehen.
Weil wir von uns selbst absehen und sie dort suchen, wo wir nicht sind: Im Anderen. In der Mutter, dem Vater, im Geliebten, den Kindern, in der Natur, in der Arbeit, in der Sehnsucht nach etwas, das nicht hier zu sein scheint. So lange wir sie nicht direkt in uns selbst wahrnehmen können, werden wir sie suchen und nicht finden.
Das Bekenntnis zur Liebe, lässt sie in allem erstrahlen, was Du erblickst. Sie leuchtet in allen Augen, in den Blättern, den Wolken, im Marienkäfer, in Deinem Partner, den Kindern, in jedem Menschen, der Dir begegnet, sei er auch noch so verschlossen und eng.
Der Blick in Dich selbst
Dort, wo die Liebe nicht bewusst durchdringt, herrscht die größte Angst. Und Angst hat viele Gesichter. Wenn ein Mensch wirklich wissen will, was Liebe ist, kommt er nicht umhin in sich selbst zu blicken und jede Lieblosigkeit sich selbst gegenüber aufzudecken als die ungesehene Hingabe an ein fremdes Glaubenssystem, das nichts mit ihm zu tun hat.
Traust Du Dich zu lieben? Traust Du Dich alles zu sehen, was Du Dir selbst antust, im Namen eines inneren Denksystems, das Dich dafür mit Dingen belohnt, die Du nicht bräuchtest und nicht haben wolltest, wenn Du direkt zu Dir kämest? Kein Applaus der Welt, kein Orden, kein Ruhm, kein Schulterklopfen, kein materieller Besitz, kein Mann, keine Frau der Welt können Dir jemals geben, was Du wirklich suchst:
Die stillen, heiteren Augen der Liebe, die tiefe Intimität mit Deinem Leben, wie es sich Dir zeigt, die erdhafte Verwurzelung innerer Sicherheit, die nur diesem Augenblick entspringt, die Erfülltheit der Gegenwärtigkeit, wie sie sich in einem Tautropfen spiegelt, wenn der Tag erwacht. Die unbändige Energie des Lebens, die Dir unbegrenzt zur Verfügung steht …
Liebe ist Ewigkeit
Keine Bibliothek der Welt würde ausreichen, um alle Qualitäten der Liebe zu besingen, um all ihre Facetten zu beschreiben. Denn sie zeigt sich durch jeden einzelnen Menschen und damit durch Milliarden Universen und damit durch unendlich viele Perspektiven. Ihre Fülle ist unbeschreiblich, ihre Dimension unfassbar. Dort, wo sie ungehindert fließt gibt es keinen Mangel, denn jeder Mangel erlöst sich in ihr. Er erlöst sich ihrem Blick.
Die Entscheidung für die Liebe ist die Entscheidung für die vollkommene Öffnung für Dich selbst und alles, was in Dir auftaucht. Es ist die Entscheidung für den freundlichen Blick, für die wohlwollende innere Begegnung und Begleitung, für die messerscharfe Unterscheidung zwischen Gesehen und Ungesehen. Deine Nacktheit ist das Kleid der Liebe, Deine Empfindsamkeit ihr ewiger Kuss. Überlasse Dich ihrem Fluss und Du erlebst die wahre Macht, die wahre Kraft, die wahre Freude, Hingabe und tiefe Lust des Lebens selbst.
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Liebe Nicole,
Was für eine wunderbare Lyrik.
Deine Nacktheit ist das Kleid der Liebe, Deine Empfindsamkeit ihr ewiger Kuss…
Du hast mich tief berührt mit dem Text, vielleicht weil ich auch im Augenblick auf einer Welle der persönlichen Liebe treibe. Aber diesmal keine Angst mehr vor dem“Wellental“ habe, weil (ich?) Eingehüllt bin in die Liebe die meine wahre Natur ist.
Wie der Fisch, der das Wasser sucht und plötzlich… Och…
Danke für deine Liebe,
Bernd
Dankeschön für Deinen Kommentar, Bernd. Keine Angst mehr vor der persönlichen Liebe zu haben ist sehr schön, besonders natürlich aus dem Grund, den Du beschreibst. Nur wenn das so ist, haben wir keine Angst mehr vor echter Nähe, Intimität, Offenheit und Weite. Erst dann hört der Deal auf: machst Du mich glücklich, mache ich Dich glücklich. Wenn Du mich nicht mehr glücklich machst, dann mache ich Dich auch nicht mehr glücklich …
Dann hört dieses armselige Spiel auf und macht etwas viel größerem Platz. Der echten Liebe, die sich teilt, anstatt sich im anderen zu erwarten … Genieße Dein Glück, das kein Zufall, sondern eine Folge ist. 🙂 Herzlich, Nicole
Liebe Nicole, beim Lesen war sofort ein Gedanke an meinen ersten Satsang bei OM da. Das Thema Liebe. Ein Mann sprach davon, dass die Liebe zu einer Freundin plötzlich verschwunden war. OM sagte darauf, wenn es weggeht, ist es keine Liebe. Sie kommt nicht und geht wieder. Damals dachte ich, wovon redet der??? Jetzt schmunzle ich darüber …
Im Moment ruft etwas, die Liebe???, genau hinzuschauen, was mich hindert diese Liebe zuzulassen. Bis auf den Grund, der so eine bunte Palette an Gefühlen hervorbringt, auf die sich Scham und Schuld legen möchte. Aber das zu erkennen, sehe ich schon als ein Handausstrecken zur Liebe hin. Im eigenen Tempo. Danke wieder von Herzen für deinen Text. In Verbundenheit, Beatrice
Schön! „Wenn es weggeht, ist es keine Liebe.“, ja so ist es. Das gefällt mir! Wir können nur den Weg frei machen. Wir können sie nicht bekommen, weil sie schon immer da ist. 🙂 Danke für Deinen Kommentar, Beatrice, hab mich gefreut. Herzlich, Nicole
♥ …
Liebe Nicole,
der Text ist wunderschön und geht direkt ins Herz.
Danke.
In Verbundenheit, Kerstin
Liebe Nicole, beim lesen deinen Worten, schwingt mein ganzes Herz mit. Die Entscheidung, für die Liebe zu leben, habe ich schon lange getroffen. Nur war mir nie so klar, was das eigentlich im tiefsten bedeutet. Den Text musste ich erst einmal in der Stille auf mich wirken lassen. Ich spüre ein Zittern in meiner Seele, so etwas wie Angst, doch mein Mut ist größer und ich jetzt treffe die Entscheidung noch einmal ganz neu.
Danke, dass es dich gibt. In Liebe Barbara
Liebe Nicole,
was für ein Geschenk dieser Text für mich ist! 🙏
Von Herzen Danke! ❤️
Das Bekenntnis zur Liebe – wie kann mir das Gelingen?
Aktuell wollen sich unangenehme Dinge zeigen, habe ich den Eindruck, und der Satz aus einem anderen Text wirkt noch nach: ‚Die emotionale Abhängigkeit von der Aufmerksamkeit eines anderen deutet auf eine tiefe Abwehrhaltung sich selbst gegenüber.‘ 😲
Forschende Grüße,
Jens