Raus aus Tokio - anhören
Stell Dir vor, Du lebst in Tokio. Ich war noch nie in Tokio. Ich kenne nur Bilder und Videos davon und kann mir deshalb eine Vorstellung davon machen. Also Tokio: Lichter, die nie verlöschen. Kaum ein Fleck ohne Menschen. Straßenschluchten, Häusermeere, kleine enge Wohnungen, tausende Geschäfte, Wolkenkratzer, wie Leitern in den Himmel, Bürogebäude mit endlosen Wegen. Bewegung, Tempo, eine Geräuschkulisse, die niemals verebbt … Einatmen ohne Auszuatmen … Irrsinn und Faszination. Gewalt. Pornografie. Vergnügen. Hohe Kontraste. Abgrund. Enge. Verborgene Dimensionen. Gestank und Parfum. Niemals Stille – mit Ausblick auf den Fujiama.
Wie fühlt sich das an?
Mein Puls steigt. Mein Herz klopft, in mir ist es eng und zurückgezogen.
Machen wir uns nun ganz klein. So klein wie ein Matchboxauto und fahren auf den Straßen von Tokio. Wir fahren in schnellen Schlangenlinien an riesigen Schuhen und Beinen vorbei und befinden uns in einem Dschungel aus Müll, an dem wir vorbeimüssen, Füßen, die uns jeden Moment wegkicken können, Hunden, die uns anbellen und umfahren alles in rasanten Ausweichmanövern. Es gibt keinen Ort, an dem wir anhalten können. Überall ist irgendwas. Wir können nicht anhalten.
Es gibt kein Entkommen aus Tokio.
Kennst Du die Satellitenbilder, die große Städte bei Nacht aus dem Weltraum zeigen?

Sehen die nicht aus wie Lichterketten, die zu einzigartigen Netzen verwoben sind? Leuchtende Netze über die Dunkelheit gestreut. Sehen die nicht aus wie Galaxien? Und sehen diese nicht aus, wie Nervenzellen?

Tokio ist Verstand in Reinkultur. Verstand ist genau das: Endlose Gedankengebäude, die bis in den Himmel reichen. Moment mal … welchen Himmel? … Da gibt’s keinen Himmel. Im Verstand gibt es keinen Ort der Stille. Keinen Ort der Weite.
Es gibt verwobene Straßenschluchten in die Zukunft und in die Vergangenheit, lautes Stimmengewirr, das nie verebbt, Meinungskrieg, Glaubenskrieg, Kämpfe um die Hauptverkehrsader, die Kontrolle über die Energieversorgung, die Verkehrsregelung der Meinungsrichtungen …
Und jetzt sitzen wir in Deinem Kopf. Dein Kopf ist Tokio. Und wer bist Du?
Du bist der Ausgang.
Du bist das, worin Tokio, Nervensysteme und Galaxien Platz haben. Meistens bist Du in einem Matchboxauto gefangen, das hektisch und in Todesangst durch die engen Straßen irrt. Der Fahrer, der nie zur Ruhe kommt, weil er immer weiter fahren muss, um an sein Ziel zu kommen. Und das wahre Ziel heißt immer Stille. Frieden. Ausatmen. Ankommen. Sehen. Glück. Du glaubst, das Glück liegt hinter der nächsten Ecke. Oder am Ende der Straße. Oder in diesem oder jenem Haus. Hinter diesem oder jenem Augenpaar. Doch so ist es nicht. Wir finden das Glück nicht IN Tokio. Niemals.
Wenn Du die Augen schließt, verschwindet das Bild der Welt. Wenn Du sie öffnest, ist es wieder da. Der Blick aber, der sieht, ist immer da. Ob er die Welt sieht, oder die Dunkelheit hinter Deinen Lidern. Der Blick sieht. Er ist sogar wach, wenn Du schläfst. Erwache zu diesem Blick, dann kommst Du raus aus Tokio. Du musst nur das Licht ausmachen, den Stecker ziehen und jetzt erkennen, dass alles nur da ist, weil Du hinsiehst. Es passiert nichts Schlimmes, wenn Du den Lichtern nicht mehr folgst, wenn Du den Versprechungen nicht mehr glaubst, wenn Du die Ordnungshüter in Dir, die das künstliche Licht anlassen
wollen, anschweigst.
Es passiert nur, dass Du zu dem Blick erwachst, der weiß, dass er sieht. Das ist nämlich ein großer Unterschied zu jenem Blick, der einfach nur sieht, ohne zu wissen, dass er selbst es ist, der sieht. Jener Blick, der den bunten Lichtern folgt, der umherirrt und niemals findet, was er sehen will, nämlich sich selbst.
Er kann sich selbst nicht sehen in all dem Trubel. Er kann es erst, wenn er sich von der Leuchtreklame, dem Straßenlärm, den Verlockungen in den Geschäften, und dem eiligen Jagen nach dem Glück zurückzieht. Wenn er die Augen schließt. Dann erwacht der Blick zu sich selbst.
Und das ewige, selbstleuchtende Licht erscheint. Ein Licht ohne Licht in dem alles auftaucht. Auch Du. Und Tokio ist einfach nur eine Wahrnehmung in dieser Wahrnehmung, eine Stadt, neben vielen Städten, die eben so ist, wie sie ist. Wir können sie besuchen aber auch woanders hinfahren, weil man den Blick, der sieht, nicht gefangen nehmen kann.
Bildquellen:
Tokio bei Nacht – Nasa
Nervenzellen: Max Planck Institut
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Danke, dass Du mich an das wache Bewusstsein in mir erinnerst, an den göttlichen Blick, der eins mit mir ist…Der pure Liebe ist. ..
Wie schön, dass Du Dich erinnert fühlst, Romy! 🙂 LG Nicole
Das ist ein kraftvoller Text. Danke Nicole
Ja, das stimmt, Stefan. Schön, dass Du das auch so wahrnimmst. LG Nicole