
Die Realität der Angst anhören
Mein Kinderzimmer lag im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses. Es hatte einen reich verzierten, blauen Berliner Kachelofen, der immer stank, wenn man ihn anzündete. Deshalb war er kaum an. In den Wintern war es so kalt, dass die Eisblumen am Fenster standen und ich tief in meine Daunendecke eingewickelt, meine kalte Nase spürte. Ich lag nachts oft wach und fürchtete mich vor den schemenhaften Umrissen der Möbel, die bedrohlich in der Dunkelheit standen. Die Geräusche des Hauses klangen immer fremd und ich hielt oft den Atem an, um jede Gefahr kommen zu hören …
Auch als Kinder sind wir mit den Vorgängen in unserem Inneren konfrontiert. Wir begegnen schon immer unseren Ängsten, Vorstellungen und Annahmen, in allem, was unsere Sinne wahrnehmen und welche Interpretation wir aus diesen Wahrnehmungen vornehmen. Darüber müssen wir nicht nachdenken, so ist es einfach. Ich versteckte meine Ohren vor den Hexen, die sie nachts abschneiden wollten und ich verkroch mich unter der Bettdecke, wenn ein Flugzeug über das Haus hinwegflog, weil es runterfallen konnte. Es war alles absolut real für mich.
Wenn meine Mutter, die Lehrerin war, zu Elternabenden ging, nahm ich oft ihren Mantel und das Zwergkaninchen mit ins Bett, damit ich sie riechen konnte und etwas Weiches spürte, in das ich mein Gesicht vergraben konnte. Wir sehnen uns immer nach Liebe und Geborgenheit.Wenn wir sie nicht bekommen, dann finden wir automatisch Strategien, um uns zumindest so sicher zu fühlen, dass wir uns, den Umständen entsprechend,
entwickeln können.
Wenn es ums Überleben geht …
Wenn es ums Überleben geht, dann spielen Gefühle keine Rolle. Dann geht es um Pragmatismus und Abgrenzung. Dann entwickelt der Mensch eine Klarheit und Härte, die ihn durch die schlimmsten Zeiten trägt. Die Seele ist dabei nebensächlich, es geht ums Überleben, ums Weitermachen, ums Durchkommen. Wenn das geschafft ist, können wir uns immer noch um unsere inneren Verletzungen kümmern …
So sind viele Menschen aufgewachsen. Nur, dass es dann keinen gab, der wusste, wie man sich um die seelischen Schmerzen kümmert, für die man sich schämt, weil Härte und Durchhaltevermögen die Eigenschaften waren, die von allen anerkannt wurden.
Und so blieben viele Menschen allein mit ihren kreisenden Gedanken, mit ihren unklaren Gefühlen, mit den schmerzvollen inneren Bildern und der Einsamkeit. Es blieb nichts anderes, als sie zu verdrängen, oft durch Alkohol, Aggression, Depression und inneren Rückzug. Weil keiner darüber sprach.
Ein verdrängtes Thema …
Es gab keinen Raum für Gefühle, für die Erforschung des Inneren und damit keine Erfahrung im Umgang mit den eigenen unausgeloteten Tiefen. Dieses Thema ist oft noch immer schambesetzt, mit großen Ängsten verbunden und bei den meisten Menschen verdrängt.
Ich hatte das Glück, schon immer dem Drang nachgegeben zu haben, meine Gedanken und Gefühle aufzuschreiben. Sobald ich schreiben konnte und mich einigermaßen wahrnahm, schrieb ich Tagebuch und konnte somit wenigstens die Energien rauslassen, die sich sonst unerträglich in mir gestaut hätten.
Wir können nichts erwarten …
Es ist nicht zu erwarten, dass Eltern, die den Umgang mit ihrem Inneren nie gelernt haben, ihrem Kind den Raum für seine Gefühle lassen können. Sie können es nicht anders, als ihre eigene innere Spaltung weiter zu geben. Das Perfide ist, dass die Überzeugungen so real wirken, dass sie unumstößlich erscheinen: „Da muss man Härte zeigen!“, „Stell Dich nicht so an“, „Augen zu und durch!“, „Sei nicht so eine Memme!“ …
Der Sensibilität eines anderen Menschen, wird nicht selten mit Aggression begegnet, weil sie so unerträglich erscheint, wenn man sie in sich selbst in den tiefsten Keller verbannt hat.
Wir brauchen mehr Nachsicht mit unseren Wunden, mit unseren eigenen, wie mit denen der Menschen, die uns umgeben. Wie schafft man das? Wie schafft man das, nicht noch mehr Hass, Abgrenzung, Spaltung und Ablehnung zu kreieren?
Wir müssen mitbekommen, dass wir Angst haben. Dass wir oft ratlos sind, nicht weiterwissen. Dass wir uns an Dingen festhalten, die vergänglich sind und nicht wissen, wie wir uns selbst Sicherheit schenken können. Wir müssen anerkennen, dass wir eine lebendige Innenwelt haben, die nicht weiter in den Kellern versteckt bleiben will, für die es keine pragmatischen Lösungen gibt.
Ein weiter Raum der Heilung …
Wir kommen in den Fluss, wenn wir uns jemandem anvertrauen. Wenn wir einen weiten Raum bekommen, in dem unsere Gefühle fließen dürfen, in dem sich unsere Gedanken ausbreiten können, ohne beschnitten zu werden. Ohne anzuecken, ohne falsch zu sein.
Heute verstecke ich mich nicht mehr vor den Hexen und auch die Flugzeuge dürfen über meinen Kopf hinweg fliegen, ohne dass ich sie fürchte. Ich weiß, dass ich keine Angst
haben muss.
Mein Bewusstsein ist nun weit genug, um zu erkennen, dass diese Ängste tiefen Unsicherheiten entstammten. Und so ist es mit allen Ängsten, die auf Vorstellungen beruhen. Doch jede Angst löst sich auf, wenn das Licht angeht. Erst wenn wir uns dem Irrationalen in uns selbst stellen, können wir real und irreal auf allen Ebenen unseres Daseins unterscheiden und lernen, was wirkliche Sicherheit ist und wo ihr Ursprung ist.
Indem wir über unsere Ängste sprechen, anstatt sie durch blinden Aktionismus zu verdrängen, oder sie hinter einer gleichgültigen Fassade zu verstecken, oder sie in Aggression zu wandeln, zünden wir in uns selbst dieses Licht an.
Doch zuerst müssen sie uns selbst bewusst werden. Das ist oft das Schwerste. Das innere Eingeständnis: „Ich habe Angst. Ich weiß wirklich nicht weiter. Ich verliere die Kontrolle, die ich glaubte zu haben“ … Erst dann kann der Damm brechen, kann es fließen, weich werden und sich dem Leben ergeben. In die Hände des Nichtwissens hinein, wo das Vertrauen
nicht mehr weit ist.
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