Ich ohne Kontext der Welt- anhören
Das Ich, das wir im Normalbewusstsein als uns selbst empfinden, kann nicht zu sich finden. Es ist wie die Brille überall zu suchen und dann zu entdecken, dass sie auf dem Kopf ist. Das, was entdeckt, ist worum es geht. Es geht nicht um das, was gefunden werden soll. Dieses Ich kann auch nichts loslassen. Um loszulassen muss erstmal zu Bewusstsein kommen, dass etwas festgehalten wird. Und dieses „zu Bewusstsein kommen“ geschieht nicht in diesem Ich, das wir üblicherweise für uns halten. Es geschieht im Bewusstsein selbst, das Ich ist, in dem ich als Körper, Gefühl, Gedanke(n) auftauche.
Das erste Mal wirklich habe ich es gespürt, als ich einmal nach dem Einkaufen mit den Einkaufstüten nach Hause lief. Plötzlich bemerkte ich den Taschengurt auf der Schulter. Ich spürte nur die Schwere des Gurtes ohne den Kontext der Schulter. Dann fiel mir die schmerzende Hand auf. Dann sah ich meine Schritte. Die Bäume am Rande der Straße, die Autos. Und ich fühlte keinen Zusammenhang mehr zwischen diesen „Dingen“.
Ich nahm sie wahr aber ohne Zentrum. Als hätte sich die Perspektive verlagert und ich wäre auf einmal das Meer, in dem all die Fische, die Pflanzen, die innere Bewegung des Wassers, das Lichtspiel auftauchen und als wäre sich das Meer selbst dessen bewusst. Es war bemerkenswert. Und gleichzeitig sehr gewöhnlich. Als wäre es immer schon so und als hätte ich sie bisher nur nicht bemerkt:
Die Weite in der alles geschieht.
Ohne Zusammenhang bedeutet dabei nicht lose oder verloren. Es bedeutet einfach nicht involviert. Dabei fiel mir eben auf, dass das obskure Zentrum, als das wir uns empfinden, diese Verdichtung, die betroffen ist von allem, überhaupt erst durch diese Involviertheit entsteht. Und dann verstand ich auch, worin das Missverständnis besteht, wenn der Verstand versucht Nichtinvolviertheit zu tun. Er versucht sich aktiv aus allem rauszuhalten.
Und das funktioniert nicht.
Etwas wie ein Gefühl taucht auf und er sagt „Nein!“ und schmettert alle Türen zu, um sich rauszuhalten. Weil das ist ja die Lehre von Advaita: Ich bin das alles nicht, was da auftaucht. Also bleibe ich hier stehen wie ein Toter, der nichts mitbekommt. Ich bekomme aber alles mit, das verheimliche ich jedoch vor mir selbst. Böse Falle. Was damit erreicht wird, ist lediglich der Stau, der sich irgendwann sehr unangenehm entlädt. Weil er es muss.
Auf diesem Nachhauseweg wurde mir klar, welche Weite, Offenheit und Klarheit schon immer ist. Alles was auftaucht, taucht einfach auf. Die Straße, die schmerzende Hand, die Autos, die Einkaufstüten, meine Schuhe, die Schritte, die sie machen… Und wo taucht das auf? Da wo wahrgenommen wird und das geschieht da, wo ich bin.
Nennen wir mich – in diesem Fall – Nicole. Ich könnte auch sagen: Diese Kamera, die hier ist, ist von der Marke Nicole. Sie hat diese und jene Eigenschaften. Aber es ist eine Kamera. Alle Kameras machen Dasselbe. Sie heißen nur anders und haben unterschiedliche Möglichkeiten der Darstellung dessen was sie erblicken.
Du bist alles, was Du hast
Diese Kamera, als Ort der Wahrnehmung, ist alles was ich habe, um das zu entdecken, was hier auftaucht. Je weniger ich dabei involviert bin, um so weitgefächerter ist das, was ich wahrnehme und damit entdecke. Dabei bin ich umso weniger involviert, je deutlicher ich wahrnehme, dass ich eine Kamera bin. Eine reine Schärfenverlagerung von Nicole auf Kamera. Und das allerspannendste ist, dass alles, was hier auftaucht wo ich bin, mit mir zu tun hat. (Vorsichtig gesagt.)
In Wirklichkeit kann ich die ganze auftauchende Welt als mich selbst entdecken. Wow.
Was entdeckst Du, wenn Du mal so schaust? Ich könnte jetzt lange beschreiben, was ich entdecke, aber das hat wenig mit Dir zu tun und würde Dich nur von der Inspiration ablenken, mal selbst in Deine Welt zu schauen. Vielleicht könnte Dir als erstes auffallen, wie absurd es ist, seine Wahrnehmung zu beschränken und zu gewissen Dingen, die auftauchen „Nein“
zu sagen.
Das Nein ist die Verstrickung, die das Ich erschafft, das als purer Widerstand durch seine selbst erschaffene Welt läuft. Und damit nichts als Widerstand mitbekommt. Es klagt sich permanent selbst an indem es auf „die anderen“ zeigt und sie verneint. Ob es nun Gedanken, Gefühle oder Menschen sind. Aber es gibt keine anderen. Was von Dir wahrgenommen wird, kann nichts anderes sein als Du selbst.
Wir sind alle Dasselbe
Wir sind alle Kameras mit unterschiedlichen Bezeichnungen und Perspektiven und gleichzeitig nur ein Blick in dem alles gesehen wird. Wenn wir das nicht wahrnehmen, bekämpfen sich Nicole und XY. Sony und Nikon. Anstatt die eigene Linse immer weiter zu putzen und zu entwickeln, damit immer klarere Bilder von der Schönheit der Welt empfangen werden können. Zur reinen Freude des Blickes selbst, der sich darin wiedererkennt.
Wenn ich die Welt, wie sie vor mir auftaucht, als mich selbst erkenne, verliebe ich mich augenblicklich in mich. Mir wird die unfassbare Vielfalt bewusst, die mir jeden Tag begegnet. Ich liebe die Farben, die Düfte (Der Flieder blüht gerade vor der Terasse). Ich liebe den Gesang der Vögel, den Himmel, diesen Hund, der mich gerade bewacht, damit ich ja nicht ohne ihn irgendwohin gehe, und alle Menschen, die in meinem Leben auftauchen.
Egal, wie sie sind. Weil jeder, der in meinem Leben auftaucht ich bin. Es hat keinen Sinn mehr, wenn ich es so sehe, mich mit irgendjemandem anzulegen, gegen jemanden zu sein, mich über jemanden zu ärgern oder irgendetwas zu tun, um irgendetwas von jemandem zu bekommen. Es hat einfach keinen Sinn. Und wieder … Du kannst Dir nicht vormachen, dass Du es so siehst, wenn Du es nicht so siehst. Es entlarvt sich selbst durch jeden lieblosen Gedanken, durch jedes enge Gefühl …
Jeder Schleier fällt irgendwann
Wenn Du es wirklich so siehst, hast Du irgendwann kein Interesse mehr an Lieblosigkeit und Enge, weder Dir selbst noch Deinen Mitmenschen gegenüber. So wie Du kein Interesse daran hast Fäkalien zu essen anstatt Dinge, die Dir entsprechen und Dich nähren.
Ja, es ist so drastisch.
Ich kann sehen, dass jeder Mensch, der in meinem Leben ist, entweder aufgrund dessen, dass ich mich übersehe da ist, oder aufgrund dessen, dass ich mich wahrnehme da ist. In ersterem Fall erfahre ich Konflikte, die mich nur darauf hinweisen sollen, dass ich mich übersehe. In letzterem Fall erfahre ich Harmonie, weil mir, als ungetrübte Linse, entspricht was ich wahrnehme. Der Blick, der immer frei von allem ist, was er sieht, entspricht der höchsten Schwingung. So sehr, dass sie sich aufhebt. Als Stille. Was wir, als Wahrnehmung, erfahren können ist Harmonie in unterschiedlichen Graden, je nachdem, wie tief die Einsicht ist. Je nachdem, wie klar die Linse ist, durch die ich als Kamera sehe …
Sofort entlädt sich die Anspannung dem anderen gegenüber, weil in dieser Sichtweise augenblicklich losgelassen wird, was ihr nicht entspricht. Da es nur da war, solange ich mich nur für Nicole gehalten habe und nicht gesehen habe, dass ich das Meer bin, in dem alles auftaucht, was auftaucht. Die Limitierung auf meine „Marke“ macht mich bedürftig und fordernd. Ich klage das Leben an, dass es mich nicht erfüllt, solange ich mich nicht ohne Kontext spüre. Und damit nicht sehe, welche unbegrenzte Möglichkeit zu sehen mir
zugrunde liegt.
Ja. Ich bin unfassbar groß, weit, viel, facettenreich. Und ich kann immer mehr von mir entdecken, wenn ich entdecke, dass Ich bin worin Ich als diese wahnsinnige Vielfalt auftauche. Als alle Natur, als alle Menschen, als alle Tiere, als alle Landschaft, die mir begegnet. Wie kann man das nicht lieben? Wie kann man darin seine Liebe beschränken? Es ist absolut egal, was auftaucht, wenn Du alles was auftaucht als Dich selbst erkennst. Dann liebst Du selbst den Tod, weil selbst er in Dir auftaucht und damit gar nicht ohne Dich existiert. Aber davon ein andermal mehr …
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Liebe Nicole, das ist (für mich) der wichtigste Text, den du je geschrieben hast! Du bist mir begegnet und ich liebe dich( im Sinne dieses Textes) …..
Vielen Dank und liebe Grüße von Hans Werner
Lieber Werner, das ist ein schöner Kommentar. Danke Dir! LG Nicole