Im Chaos innere Ruhe bewahren

 

Die Bilder sind direkt und gnadenlos eindringlich. Da kann man nicht wegsehen. Sie erschüttern. Sie rühren tief sitzende Emotionen auf. Sie zeigen uns, wovor wir so unendliche Angst haben. Sie zeigen uns das totale Chaos, den Überlebenskampf, das Leid des Todes und die Verzweiflung eines nicht begreifen könnenden Verstandes. Niemand will das erleben, was gerade zehntausende Erdbebenopfer in der Türkei und in Nordsyrien erleben. Das ist genau das, wovor der Verstand sich vor der Katastrophe, mitten in der Katastrophe und nach der Katastrophe zu schützen versucht.

Vor dem Chaos versucht er sich vor dem Chaos abzusichern, mitten im Chaos sucht er nach den Schuldigen, und nach der Realisation des Chaos baut er alles wieder auf wie vorher. So zeigt es die Geschichte aller Katastrophen bis heute.

Ich habe türkisches Fernsehen gesehen und erlebt, wie reißerisch, vojeuristisch und taktlos „draufgehalten“ wird. Dabei habe ich zum ersten Mal verstanden, warum viele Ureinwohnerstämme Amerikas glauben, dass ein Foto ihnen die Seele rauben würde und sie Fotografien deshalb ablehnen.

Die Angst vor dem Chaos

Die ganze Welt gafft auf die Türkei und Syrien. Sind wir ehrlich: Wir sehen nicht. Wir gaffen!

Wir rauben diesen Menschen ihre Würde. Doch was heißt Würde in diesem Zusamenhang? Würde heißt, ein Volk rückt zusammen und stellt sich dem Geschehen. Es tut in vereinter Kraft, was es kann. Es trägt den Schmerz und ist wach und präsent in dem, was ist, und nicht in dem, was nicht sein soll.

Doch indem wir, die nicht direkt Betroffenen, draufhalten und auf den Schmerz gaffen, das Chaos, das Unbegreifliche … betonen wir die Katastrophe und damit das, was nicht sein soll. Das, was niemals hätte geschehen dürfen, das, wovor wir alle Angst haben: Diesen Schmerz erleben zu müssen, wenn geliebte Menschen vor unseren Augen sterben und alles im Chaos versinkt.

Und so ist die Welt gestrickt: Wir lassen uns nicht ein auf das, was ist. Wir versuchen es zu verhindern, und wenn es dann doch eingetreten ist, suchen wir nach den Schuldigen. Und wenn der erste Schock wieder vorbei ist, machen wir alles so schnell wie möglich wie vorher („In einem Jahr haben wir alles wieder aufgebaut!“ Zitat Erdogan). Mit der Coronaepidemie war es nichts anderes. Ein endloser Kreislauf, der sich so lange wiederholt, bis sich diese Energie ausgespielt hat und eine neue Energie übernimmt.

Die Würde der Ausweglosigkeit

Doch was könnte diese neue Energie sein? Sie wird erst eintreten, wenn wir uns selbst auf eine neue Art und Weise sehen und behandeln. Wenn wir dem Chaos in uns selbst mit Würde begegnen und nicht mit der Suche nach der Ursache und den Schuldigen. Wir werden sie nicht finden. Selbst wenn wir unsere Eltern für unser Leid anklagen, kommen wir nicht umhin zu erkennen, dass auch sie Opfer ihrer Eltern sind und diese wiederum die Opfer der Weltbilder ihrer Eltern und so fort. Wo landen wir, wenn wir diesen Strang zu Ende verfolgen?

Es gibt darin weder einen Anfang, noch ein Ende. Alles ist Schuld daran und nichts ist Schuld daran.

Wer ist Schuld an den Auswirkungen dieses Erdbebens? Erdogan, weil er die Wahlen manipuliert hat, indem er immer wieder Baugenehmigungen für erdbebenunsichere Gebäude erteilt hat, um sich wichtige Stimmen zu sichern? Oder weil er auf Warnungen nicht eingegangen ist? Oder die Menschen, die einen (An)Führer wählen, weil sie sich angeleitet von einer scheinbar starken, machtvollen Kraft sicher fühlen und damit ihre Identität stärken können? Die sich ohne dies unsicher und minderwertig fühlen würden? Unfähig sich selbst zu führen?

Oder ist das Gesellschaftssystem schuld, das Macht und Ohnmacht fördert, indem es nur ein Ziel kennt, dem absolut alles dient: Profitmaximierung? Und wie kam es dazu, dass dieses System überhaupt in der Welt Fuß gefasst hat? Wie kam es dazu, dass es überhaupt ersonnen wurde, wie kam es dazu, dass wir überhaupt Systeme brauchen, um einigermaßen friedlich zusammenzuleben, wie kam es dazu, dass wir überhaupt darüber nachdenken mussten, wie wir zusammenleben können, ohne dass wir uns ständig selbst zerstören und ausbeuten?

Wie kam es dazu?

Wie kam es dazu, dass wir uns den Kräften der Natur ausgeliefert gefühlt haben und uns Götter erfanden, denen wir Opfer darbieten mussten, damit sie uns nicht mit Katastrophen straften? Wie kam es dazu, dass wir die Augen aufschlugen und allem Sichtbaren einen Namen geben mussten, um es zu kontrollieren, damit wir die Angst vor dem Fremden nicht mehr spüren mussten? Wo fing das alles an?

Wir können nur beim Urknall landen. Der einzig bisher anerkannten Antwort der Wissenschaftler auf die Ursache unseres Daseins. Und dann können wir ein ums andere Mal sehen, wie wenig wir wirklich wissen. Und wie alles Wissen allein der Prävention und Verteidigung dient und letzen Endes: dem Überleben.

Wir können feststellen: Ja, wir sind Wesen, denen es Angst macht nicht zu wissen, warum sie existieren und warum sie auch wieder aus dieser Existenz genommen werden. Es macht uns Angst nicht zu wissen, wie wir in der gegebenen Periode unserer Existenz ohne Angst leben können. Deshalb versuchen wir das Erstbeste: Wir geben allem Unbekannten einen Namen und vergessen das Unbekannte.

Wir werden selbst zu Bezeichnungen

Wir leben in den Bezeichnungen und werden selbst zu diesen Bezeichnungen. Und alles, was nicht bezeichenbar ist, wird ignoriert oder bekämpft. Alles, was wir nicht kontrollieren können, wird unterdrückt. Wir machen uns die Welt Untertan, indem wir über sie bestimmen, als wäre sie etwas Bestimmbares. Denn so gehen wir mit uns selbst um. Wir sperren uns in Weltbilder ein, die uns nicht erlauben uns als das Unbekannte zu belassen und von innen zu entdecken.

Wir lassen uns nicht zu. Wir lassen den Schmerz nicht zu, er muss so schnell wie möglich gedeckelt werden, wir lassen das Chaos nicht zu, es muss so schnell wie möglich beseitigt werden, wir lassen das Unbegreifliche nicht zu. Wir lassen es nicht in unsere Herzen, nicht in die Tiefe unserer Seele, denn dort könnte offenbar werden, dass wir nicht die Drahtzieher dieser Existenz sind.

Lassen wir uns die Bilder dieser Katastrophe schlicht zu Herzen gehen, anstatt uns an der Pornografie des Leids zu beteiligen. Lasst uns helfen, wo und wie wir können. Lasst uns die Menschen ihre Würde bewahren, indem wir sie nicht angaffen und uns selbst ausweiden dabei. Lasst uns ein wenig mehr verstehen, dass wir unpersönlichen Kräften ausgesetzt sind, die wir nie beherrschen werden, weil wir selbst nicht beherrschbar sind. Wir können nur zutiefst erleben, was geschieht, und nach Kräften leisten, was wir für unser Fortbestehen tun können.

Ein wilder Geist, den die Stille ruft …

Wenn wir uns selbst nicht wie Objekte behandeln, die man behandeln kann, dann hören wir auf nach Schuldigen zu suchen. Wir hören auf uns in uns selbst vor unerwünschten Anteilen abzuspalten und zu kontrollieren und fühlen uns nicht mehr in der inneren Fremde. Dann ist die Welt, in der wir leben uns auch nicht mehr fremd. Kein Mensch ist mehr fremd. Kein Ereignis ist mehr fremd. Kein Empfinden ist mehr fremd.

Es ist alles ein Ausdruck des Geistes, der in uns wirkt. Jede Reaktion auf das, was geschieht. Wir sind alle dieser nicht zu bändigende Geist, der wirkt. Allesamt ein Geist. Wir können uns nur beruhigen und besonnen handeln, wenn wir im inneren oder äußeren Chaos still werden und rein gar nichts wissen außer dem, was gerade jetzt wirklich von uns verlangt wird.

 

 

 

Wenn Dich der Artikel inspiriert hat, freue ich mich sehr über den Ausdruck Deiner Wertschätzung mittels einer Spende. Vielen Dank!

2 Kommentare

  1. Nina

    Starke Worte, Nicole. Sehr berührend. Es ist immer die Energie Deiner Worte, die ich direkt spüre. Ganz nah. Ja, mein Verstand bereift nicht, was da geschieht und ich erlebe meine persönlichen Katastrophen genau so, dass ich so schnelll wie möglich eine Lösung will. Aber ich kenne es auch, dass die Lösungen dann kommen, wenn ich still bleibe und nichts mache. Außer das, was gerade zu tun ist. Wenn ich nicht nachdenke. Danke für diese tiefe und große Anregung! Nina

    Antworten
  2. Maja

    WENN ES DIE STILLE ZULÄSST…

    Worte zu suchen wofür es keine gibt..
    da hin führt uns des öfteren das Leben. Wenn wir erstarren vor Schreck bleibt uns nur Weinen und Klagen..aus der Haut fahren.. bestenfalls einfach nur still zu sein…
    WENN ES DIE STILLE ZULÄSST….
    irgendwann folgt auch wieder lachen..
    WENN ES DIE STILLE ZULÄSST…
    Was wir am Ort der Traurigkeit zu sehen, zu hören, zu spüren bekommen…das heißt nackt durch die Hölle zu gehn..und es lässt nur eine Möglichkeit zu: In der Würde der AusweglosigkeiT
    Platz zu nehmen….in der Liebe…ins Vertrauen darin…
    WENN ES DIE STILLE ZULÄSST…
    LIEBE IST STARK WIE DER TOD und Gott ist nicht der Tod, sondern die Liebe.
    Die Würde der Ausweglosigkeit ist schon FÜR IMMER AUS DER STILLE ZUGELASSEN.

    Danke dir liebe Nicole für deine Trost nahen Worte, in Verbundenheit

    Antworten

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.