Die meisten Menschen, die sich auf einem inneren Weg befinden, wollen eine veränderte Wahrnehmung erzielen. Meist geht es darum sich besser in sich selbst zu fühlen und das Leben nicht mehr als konflikthaft zu erfahren. Jeder Aufbruch in eine „neue Welt“ fängt aus einem Mangelempfinden heraus an. Aus einem Getriebensein, aus einer Hoffnung, einem Wunsch. Wir fangen alle aus persönlichen Gründen heraus an uns selbst finden zu wollen, aus einer Unzufriedenheit, die uns dazu antreibt, Zufriedenheit zu finden, so, wie wir uns Zufriedenheit eben vorstellen. Und genau da liegt das Problem.

Wir haben Vorstellungen davon, wie es aussieht, wenn wir glücklich sind, gesund, erfolgreich oder sogar erleuchtet. So sehr viele auch glauben keine Vorstellungen davon zu haben, sie haben sie. Hätten sie sie nicht, bestünde die ganze Suche nicht mehr. Dann wäre einfach niemand mehr da, der zufrieden oder unzufrieden wäre. Denn beide Zustände sind Früchte von Vorstellungen davon, wie das Leben zu sein hat.

Viele spirituell Suchende wissen Bescheid. Sie wissen alles über Bewusstsein, Unbewusstsein, Ego, Konditionierungen, Befreiung, Präsenz, Gewahrsein etc.pp. Doch trotz dieses Wissens verändert sich nichts in ihrer inneren Wahrnehmung. Sie bleiben auf der Suche und glauben, sie müssten nur dem richtigen Lehrer begegnen, dann würden sie es schon „verstehen“.

Es geht um das Fühlen

Doch ab einem gewissen Punkt geht es nicht mehr um das Verstehen. Es geht um das Fühlen. Und hier beginnt die echte Herausforderung. Da ist das Verstehen noch einfach dagegen. Wir sind in unserer Gesellschaft absolut durchrationalisiert. Und das ist nicht mehr nur den Männern vorbehalten, sondern betrifft auch die Frauen. Wir müssen das Fühlen wieder lernen.

Es gibt nahezu keinen Menschen, der nicht in seiner Kindheit traumatisiert wurde. Was bedeutet das? Kaum ein Mensch wurde in seinem ursprünglichen Wesen belassen. Sofort nach der Geburt werden wir in ein Gesellschaftssystem mit seinen Normen und Werten hineingepresst und noch dazu den konditionierten Weltbildern der Bezugspersonen ausgesetzt, die vollkommen unbewusst und selbstverständlich mit unserem Leben machen, was sie wollen. Weil es ja „alle“ tun. Und das aus bestem Wissen und Gewissen und nur zu unserem Besten.

Das Ergebnis sind Menschen, die funktionieren – und leiden. Den einen fällt ihr Leiden mehr auf, den anderen weniger. Auf diejenigen, die sich ihres Leidens gewahr werden, wartet der innere Weg. Es ist unter Umständen ein langer Weg, der einen zu verschiedenen Psychologen, spirituellen Lehrern, Gurus, Seminaren, Körper – und Geistübungen, vielleicht sogar Sekten, Gemeinschaften mit unterschiedlichen Weltbildern usw. führt. Doch irgendwann ist der Punkt erreicht, wo es darum geht all das zu verlassen und sich absolut und total auf sich selbst zu besinnen. Und anzufangen zu fühlen.

Gedanken kommen da nicht heran

Es ist nicht möglich unsere Konditionierungen mit rein geistigen Mitteln zu verlassen. Denn die Zeit, in der sie entstanden sind, war eine Zeit, in der unser Bewusstsein auf einem nicht rationalen Niveau war. Da waren noch keine Gedanken. Da waren nur Impulse und Emotionen. Deshalb kommen wir auch nicht mit dem Verstehen und den Gedanken heran. Wir müssen heute fühlen, wie sich das Wesen gefühlt hat, das damals vollständig übergangen wurde, um in dieses System zu passen, in das es hineingeboren wurde.

Nur das ist echte Integration. Verständnis und Gefühl sind die Mittel, die das, was wir Ego nennen in jenes Gleichgewicht bringen, das ihm erlaubt, über sich selbst hinauszufinden. Das ist ein automatischer Vorgang, der keinerlei Anstrengung bedarf. Die einzige Anstrengung ist die Bereitschaft, das vorrationale Gefühl mit dem heutigen Erwachsenenbewusstsein nachzufühlen. Es ist deshalb eine Herausforderung, weil dieses vorrationale Bewusstsein abgespalten ist.

Es ist in dem Alter stehen geblieben, in dem der Machtmissbrauch geschehen ist. Deshalb ist der Zugang für den Erwachsenen noch immer hochgradig angstbesetzt. Wie auch beim damaligen Kind, das seine Abwehrstrategie entwickelt hat, um nicht die Ablehnung seines Wesens durch die Bezugspersonen zu fühlen, fühlt sich der Übertritt der Schwelle zu den „alten“ Gefühlen überwältigend an. Das ist der Grund, warum viele Menschen zu viel essen, zu viel trinken, zu viel fernsehen, warum sie gewalttätig sind, übergriffig, manipulierend, kontrollierend usw. Es ist der Grund für alle Süchte, die es gibt.

Tiefste Abwehr

Keiner will dem alten Schmerz erneut begegnen. Doch er ist da. Und er bestimmt darüber, was wir denken, fühlen, mit wem wir zusammen sind, was wir arbeiten, ob wir arbeiten, ob wir Kinder haben oder nicht, wie wir leben … Und ob wir jemals emotional erwachsen werden.

Dabei ist es ganz egal, wie intelligent, intellektuell, verständig, spirituell wir sind. Ist dieser Teil unseres Daseins nicht integriert, werden wir niemals in einen umfassenden Einklang mit uns selbst kommen.

Es geht um die verlassenen Kellerkinder, die in uns ihr ungesehenes und ungefühltes Dasein fristen. Es geht um die einsamen, traurigen, wütenden, ängstlichen Kinder, die alleingelassen wurden. Zuerst von ihren Eltern, dann von sich selbst.

Befreiung der Liebe

Es geht um den Teil von uns, den wir zutiefst ablehnen, weil er (so glauben wir unbewusst) Schuld daran ist, dass wir nicht geliebt wurden. Und deshalb keine Liebe für uns selbst empfinden können. Stattdessen begegnen wir uns selbst mit der gleichen Kritik und Belehrung, die wir erfahren haben. Wir müssen diesen Teil in uns seiner Schuld entheben und sein unschuldiges Wesen anerkennen und erfassen. Die gesellschaftliche Indoktrination mit Leib und Seele zu erfahren – zu verstehen UND zu fühlen, das ist, was uns aus ihren Ketten befreit.

Das ist, was Bewusstsein sich seiner selbst bewusstwerden lässt. Sonst verharren wir in einer Einseitigkeit gelehrigen Verstehens, das uns dennoch in der Trennung unserer Selbst belässt und weiterhin alles dafür tun lässt, um ja nicht in Kontakt mit unserem irrationalen Anteil zu kommen.

Auch wenn es seltsam klingt: Du kannst Dich über jeden Menschen freuen über jede Situation, die den tiefsten Schmerz in Dir triggert, die größte Unsicherheit, die ratloseste Hilflosigkeit und die größte Wut. Ergreife die Chance und lasse Dich anhand Deiner Emotionen hinabführen in die dunkelsten Gefühle, in die tiefsten Keller Deines Daseins.

Du fehlst Dir selbst

Dort wartest Du auf Dich. Du wartest darauf, endlich gesehen zu werden von Dir. Und nur von Dir. Sich selbst der offene und zugewandte Raum zu sein, den wir als Kinder gebraucht hätten, um uns unvoreingenommen wahrzunehmen, ist die Lösung aller Probleme, die wir „mit uns selbst“ haben. Das ist die Vereinigung, welche die Kluft in Dir selbst schließt. Kehre zurück zu Deinem ungeliebten Sein und öffne Dich seiner Not.

Das ist die Zugewandtheit, die Dein Ich heilt und dadurch jene Liebe ins wahrnehmende Bewusstsein einströmen lässt, die schon immer im Dasein selbst liegt. Jetzt kannst Du sie fühlen. Jetzt fühlt sich Liebe selbst: Als kommentarloses Dasein, das sich selbst erfährt, wie es ist. Von keiner Meinung getrübt, von keinem Urteil gestört, von keiner Vorstellung unterdrückt. Einfach Sein, das sich durch Deine Anwesenheit erfährt.

 

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13 Kommentare

  1. Hans Werner Bramer

    Liebe Nicole,
    schon wieder so ein wunderbarer Blogbeitrag von dir, jeder Satz wohlüberlegt, treffend, stimmig, helfend…., danke!!

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    • Nicole Paskow

      Das freut mich sehr, Hans Werner! Herzlich, Nicole

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  2. Jürgen Brocke

    Wunderbar, liebe Nicole, wirklich wunderbar, wie klar du das beschreibst. Bei mir hat sich das auch total verändert und ich kann immer weniger in diesen schlauen Erleuchtungsgedanken Frieden finden. Das ist wundervoll, denn ich fühle mich immer mehr durch den Keller und hier sind so viele Kinder von mir, die mich mit leuchtenden Augen empfangen. Weil ich sie sehe und annehmen kann.
    Ganz liebe Grüße

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    • Nicole Paskow

      🙂 Das hast Du sehr schön gesagt, Jürgen, danke dafür! LG Nicole

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  3. Brigitte

    Liebe Nicole,
    ich wußte gerade nicht, ob ich lächeln oder weinen sollte. Dein Beitrag hat mich tief berührt, angetriggert, zum genau richtigen Zeitpunkt bestätigt.
    Bei Deinem letzten Zoom Treffen stelltest Du einer Teilnehmerin die Frage: Was wenn es…sich nie ändert. Meine spontane Antwort für mich war: Dann hätte ich ja Recht, Recht ungewollt, benutzt, erniedrigt zu sein…
    Viele Impulse sind mir seitdem begegnet, sehr wertvolle, dankbar empfundene. Wir alle sind geprägt, verbogen und in unseren wahren Entwicklung auf die ein oder andere Weise ich nenne es mal „gestört“ worden. Und unsere Lösungen darauf waren uns ggf. von unseren Gefühlen abzuschneiden, Masken aufzusetzen um unser Überleben zu sichern, dazu zu gehören. Schutzmechanismen für die wir sicherlich sehr dankbar sein können. Und doch geht es nunmehr unseren wahren Emotionen wieder den Raum zu geben, zu fühlen und zu spüren was darunter verborgen ist, das Wahre das jeden von uns einzigartig und doch auch verbunden sein läßt. Gerade jetzt. Ich mag mich der Herausforderung mich für meine Gefühle, Bedürfnisse und allem was ich abgeschnitten habe zu öffnen und danke Dir so sehr von Herzen für Deine so wertvollen Impulse, tiefgründig und lebensnah.
    Im Gefühl der Verbundenheit, von Herz zu Herz, Brigitte

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    • Nicole Paskow

      „Und doch geht es nunmehr unseren wahren Emotionen wieder den Raum zu geben, zu fühlen und zu spüren was darunter verborgen ist, das Wahre das jeden von uns einzigartig und doch auch verbunden sein läßt. „Ja, Brigitte, für den, den genau das zieht, geht es genau darum. Und ich möchte auf eine wichtige Sache hinweisen. Die Frage, die ich der Teilnehmerin gestellt habe, habe ich nur ihr gestellt, auf ihre Situation angepasst. Dir hätte ich sehr wahrscheinlich eine andere Frage gestellt. Denn dass was bei Dir dadurch angetriggert wurde, ist nicht das, was „Du“ denkst, sondern das, was Dein Abwehrmechanismus denkt. Es ist wichtig, diesen Unterschied zu verstehen … Ich freue mich über Deinen Mut, Dich Dir selbst wirklich zu stellen. Herzliche Grüße zu Dir, Nicole

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  4. Beatrice

    Liebe Nicole, inzwischen habe ich Deinen wertvollen Beitrag wieder und wieder gelesen und auch angehört. Deine Worte fallen alle auf so fruchtbaren Boden in mir, direkt in mein Herz. Wie für mich geschrieben. Und ich empfinde tiefes Mitgefühl für diese Kellerkinddramen. Es wird Zeit, Licht hinein zu lassen. Danke Dir. Und noch ergänzend, 40 Tage fasten, wow. Respekt! Mir blieb beim Lesen der Mund offen und geatmet habe ich auch nicht. Was für ein Prozess. Freue mich, bald mehr von Deinen „Erfahrungen“ zu erfahren. Von Herz zu Herz, Beatrice.

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    • Nicole Paskow

      Danke, liebe Beatrice für Deinen herzlichen Kommentar! Hab mich sehr darüber gefreut! 🙂 LG Nicole

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  5. Sabine

    Du hast es sehr schön auf den Punkt gebracht, liebe Nicole: nur das Fühlen aller von uns abgelehnten Gefühle ermöglicht es uns, Heil- und Ganz-Sein wieder zu erleben.

    Es braucht manchmal enorme Überwindung sich für bestimmte Gefühle zu öffnen. Ich habe es schon erlebt, dass ich fast zwei Stunden lang mit dauerverkrampftem Bauch und Unterleib auf dem Bett lag und mich nicht rühren konnte aufgrund eines starken emotionalen Schmerzes, den ich gefühlt habe. Das kann beängstigend sein. Und dennoch gibt es einfach keinen Weg daran vorbei, wenn ich wirklich in Frieden mit mir selbst kommen will.

    Ich finde einen gewissen Trost darin, dass wir alle im selben Boot sitzen und zwar jeder Mensch für sich aber letztlich gemeinsam durch diese Phönix-Erfahrung gehen, die uns am Ende ermöglicht, aus dem Schmerz und der Asche unsres alten Selbstverständnisses wiederzuerstehen.

    Alles Liebe und schöne Osterfeiertage!
    Sabine

    P.S. Dein Gesicht auf dem Foto im Newsletter strahlt ein Leuchten von Innen nach Außen aus, das ich sehr ansprechend finde. Man kann sehen, dass sich etwas in Dir getan hat..

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    • Nicole Paskow

      Danke, liebe Sabine für Deine warmen Worte! 🙂 Herzliche Grüße zu Dir! Nicole

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  6. AMITOLA rainbowlight

    Liebe Nicole, danke, für DEIN dieses so SEIN.

    Ich fühle alles in EINEM, im EINEN, IN MIR,

    und ich fühle – für mich – keine Steigerung mehr in dieser Schwingung und in Deiner GÖTTLICH(T)en

    Ausdrucksweise. danke vielmals

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  7. Werner Strahwald

    Liebe Nicole, ich freue mich sehr für dich, über deine Erfahrung und die Klarheit mit dem Fühlen.
    Erst durch das zulassen und fühlen, von allem was in uns geschieht, lernen wir Lebendigkeit zu erleben.
    Nur dadurch finden all unsere Erkenntnisse und vermeintliches Wissen, den Weg in unser Dasein.
    Es ist wie eine Transformation die in uns stattfindet.
    Nicht weil wir es so wollen, sondern weil wir plötzlich er-leben dürfen, das alles Wissen, solange „leere“ Worte bleiben, bis sie durch uns Fühlen Lebendigkeit erlangen.
    Danke für dein so-sein.

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  8. Jörg

    Bin ohne Worte noch ganz entrückt und die Töne hallen noch nach in meinem Innenraum …. Danke

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