Dunkelheit, Leere

Die Qualität des Augenblicks - anhören

von Radical Now

Ist das, was ist, alles, was es gibt? Oder gibt es da noch mehr? Ja! Das, was ist, (was wahrgenommen wird) ist alles, was es gibt. Und nein! Das, was ist, ist noch lange nicht alles, was erfahren werden kann.

Es gibt nur diese eine Oberfläche, die ein Mensch so erfährt, wie er sie erfährt. Es gibt nur diese eine Welt, die jeder Mensch so erfährt, wie er sie mitbekommt. Und spannend ist, dass jeder Mensch die Welt so wahrnimmt, wie dieser Mensch sie wahrnimmt. Es gibt keine zwei gleichen Weltwahrnehmungen. Unmöglich. Und gleichzeitig gibt es nur eine Wahrnehmung. Was für ein herrliches Paradoxon! Ich finde jedes Paradoxon herrlich, weil es sofort die engen geistigen Grenzen sprengt. Und diese Sprengung ist wie eine direkte Erfahrung des Einen ohne ein Zweites. In das Erleben eines Paradoxons passt kein Gedanke. So dicht ist es. Und damit ist es gleichzeitig so leer. Die erlebte Gleichzeitigkeit von zwei Gegensätzen schleudert den Verstand in die Zeitlosigkeit. Und dort kann er nur verbrennen. Übrig bleibt reines, sich seiner selbst bewusstes Dasein.

Entleerter Geist

Oder einfach gesagt: Geist ohne Speckschicht. Denn um direkt zu sehen, was ist, bedarf es der geistigen Entleerung. Ansonsten verliert sich der immer anwesende Blick in den Labyrinthen geistiger Strukturen und glaubt Dinge und hat Ideen und Vorstellungen und verstrickt sich in Emotionen zu diesen Vorstellungen und sieht nicht klar, was ist, sondern das, was er glaubt und sich vorstellt. Das bildet dann als Grundlage die Realität und kreiert Aktivitäten, Handlungen, Gedanken und Emotionen.

Um jedoch klar zu sehen, was ist, müssen der Geist leer und das Herz still sein. Kein Verfolgen von Gedanken wie: „Aber es muss doch einen Sinn geben!“, oder „Wie soll ich denn nicht an XY anhaften?“. Das führt den Geist in die totale Irre. Stattdessen: Nur Dasein mit allem,
was da ist.

In diesem Empfangen gibt es nichts, was den Geist am Empfangen hindert. Kein Widerstand durch emotionale Wunschvorstellungen, durch Erwartungen von Logik und „rechtmäßige“ Zusammenhänge. In diesem Empfangen geht es nicht um eine Suche und nicht um ein Finden. In diesem Dasein für alles und in allem geht es nur um das Dasein in allem und für alles. Und darin empfängt sich die totale Nähe, die unvorstellbar ist für den vergleichenden Verstand, weil diese Nähe kein Gegenteil hat. Sie ist durch keine Idee von sich selbst getrennt. Niemals, weil sie zeitlos ist.

Komplexe Einfachheit

Hier erfährt sich die wahre Qualität des Augenblicks. Das sind beispielsweise die Momente, wenn Du aus dem Fenster siehst, wenn es schneit. Oder regnet. Oder Du einem Vogel zusiehst, der sein Gefieder auf einem schaukelnden Zweig sitzend, putzt.

Oder Du verfolgst den Dampf des Tees in der heißen Tasse, die Deine Finger fast verbrennt. Wer ist denn da in solchen Momenten? Ist da nicht nur Dasein, das erlebt, ohne eine Trennung zwischen sich selbst und dem Vogel, dem Schnee, dem Regen? Wenn Du nur hinsiehst und kein Gedanke wie “Oh, wie schön!“ – den Augenblick in Erlebnis und
Erlebenden teilt?

Oder Küssen! Oh, Küssen … Wie schlecht ist ein Kuss, den man gut hinbekommen will, nicht wahr? Und wie überirdisch ist ein Kuss, der nur küsst. Das Spüren der Lippen, diese Berührung, der Atem, die Bewegungen, die sich selbst lenken, die Sinne, die sich vollkommen einlassen auf das küssende Sein …
Ekstase ist nichts anderes als eine gedankenfreie Zone der vollkommenen Sinnlichkeit. Absolute Intimität.

Nichts ist ausgeschlossen

In Wirklichkeit gibt es keine Lebenssituation, die davon ausgeschlossen sein könnte. Jeder Augenblick kann von sich selbst durchtränkt sein. Du kannst in einem Gespräch sein und dabei vollkommen eins mit Deinem Gegenüber, dem Sprechen, dem Zuhören, dem Thema. Eingelassen sein bedeutet anwesend mit Haut und Haar. Kein Abschweifen in ein Außerhalb, das gerade nichts mit dieser Situation zu tun hat. Dann erschließt sich die volle Information. Du bekommst alles mit, was es mitzubekommen gilt. Du bekommst das Dir möglichste einer Situation. Es braucht nicht den abschweifenden Verstand, der sich, während der andere spricht mit den eigenen Empfindungen beschäftigt und nur zur Hälfte erfährt, was der andere spricht. Diese Art Leben lenkt sich auf natürliche Weise selbst. Schrankenlos, widerstandslos. Empfang und Sendung sind (wieder) paradoxerweise eins.

Aber dafür braucht es eine empfangende Haltung, in der kein Kontrolleur einem den Spaß verdirbt. Jeder noch so scheinbar profane Augenblick birgt unendliche Erfahrungsdimensionen in sich. Die Frage ist einzig und allein, wie eingelassen bist Du auf diesen Moment? Und das heißt nichts weniger als, wie sehr bist Du IN diesem Augenblick anwesend, in vollständiger Aufmerksamkeit?

Je weniger Du da bist, um so mehr Erlebnisse wirst Du brauchen, um Dich lebendig zu fühlen. Im schlimmsten Fall wird Dir kein einziges Erlebnis reichen, um Dich einmal vital zu spüren.
Je anwesender Du allerdings bist, um so weniger Erfahrungen wirst Du brauchen, um die Tiefe, Liebe und Schönheit des Lebens zu erfahren. Und selbst diese Worte sind nur ein Abklatsch der Wahrheit, die in jeder noch so kleinen Bewegung steckt.

Kein Zweites

Nein, es geht nicht um emotionale Glückserlebnisse und glückselige Liebe und unendliche Geborgenheit. Es geht um die einfache Nähe des Lebens zu sich selbst. Dasein ohne kontrollierende, urteilende Störfrequenz. Und auch das heißt nicht, dass es keine dunklen Gefühle geben kann. Es heißt einzig und allein: Kein Zweites in Dir. Kein anderes in Dir. Kein Gegner in Dir, der gegen Deine Wahrnehmung schießt. Pures Sein. Darin löst sich alles auf, was nicht aus sich selbst heraus existiert.

Und es löst sich nicht auf, um nicht mehr da zu sein. Es löst sich auf, um in allem, als alles aufzugehen. Wie unbeschreiblich das doch ist …

Aber auch, wenn das Geschriebene nach einem Tun klingt, das man tun kann, so ist es nicht so. Es geht vielmehr um ein Einsehen, ein Stillwerden, ein – den Lärm im Inneren erstmal bemerken, bevor man erkennen kann, was Stille ist. Alles liegt im Erkennen, in der Bewusstwerdung, die alle Ebenen durchzieht, wenn sie einmal einen wachen Zipfel in uns erwischt hat.

Das, was wir als Welterleben vorfinden, ist exakt das, was dem Vorfinder möglich ist. Und wieder begegnen wir dem Paradoxon von Sein und Werden.  Denn in diesem Vorfinden gibt es theoretisch kein Ende der Fahnenstange. Und doch ist die aller allertiefste Dimension des Daseins zeitgleich ihre direkte Oberfläche. Und die heißt immer „Jetzt! Und so!“ Da passt nichts dazwischen. Das ist der Frieden, der immer ist, als die absolute Qualität
dieses Augenblicks.

 

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6 Kommentare

  1. Johannes

    Die Frage ist einzig und allein, wie eingelassen bist ich auf diesen Moment? Und das heißt nichts weniger als, wie sehr bin ich IN diesem Augenblick anwesend, in vollständiger Aufmerksamkeit?
    Welch wundervoller Text. Das IN ist für mich der Schlüssel.. herzlichen Dank liebe Nicole.

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    • Nicole Paskow

      Ja, lieber Johannes … ich weiß … 🙂

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  2. hell_MUT

    Ich kann jetzt mein Gefühl- Liebe Nicole- unmöglich „beschreiben“. Es ist ein Heiliger Augenblick, und noch HEILIGER fühle ich, DICH Deine SEELE zu küssen. Danke, DU, Die DU LIEBE BIST

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  3. Maja

    Ich liebe das Leben. Das Geheimnis von Lebendigkeit liegt im ‚Augenblick‘. Nur im Augenblick kann ich erblühn. Es ist ein offenes Geheimnis, dass ich die lebendige Gegenwart bin, der lebendige Lebensfluss. Die Frage ist allein warum fühlt sich das nicht permanent so an, warum erlebe ich mich denn nicht jeden Moment frisch und neu..?? Ich kriege nie genug davon, dir, liebe Nicole, achtsam zu lauschen, was mich denn als Lebensfluss blockiert?! All die Ängste und destruktiven Gewohnheiten der Abwehr zu konfrontieren, die den Lebensfluss blockieren, ist eine wunderbare Möglichkeit das Gedankenkarussell zu entmachten und das Leben jeden Moment zu empfangen so wie es ist in all seinen Facetten: jede Traurigkeit, jedes Glücksempfinden, jeden Hass…einfach alles alles so wie es ist…
    Wenn ich deine Texte durchstreife bleibt meine Neugier an vielen Stellen haften und bohrt dann in mir tiefer..
    Diesmal bin ich so richtig aufgeblüht in der Passage: ‚ je anwesender Du bist, um so weniger Erfahrungen wirst Du brauchen, um die Tiefe, Liebe und Schönheit des Lebens zu erfahren’….ja ganz genau!!..welch ein Wunder ist doch jede Regung, so fühlt sichs an.
    Ich liebe deine Texte und ich wiederhole die Aussage von einer Deiner Hörerinnen: ‚ manche Texte liest man und mit deinen Texten lebt man‘.
    Und was den Augenblick angeht..was könnte magischer sein als jeden Moment einen Aspekt von mir zu empfangen, zu erfahren…unendlich dem zu lauschen und mich zu erleben was und wie ich bin.
    So danke ich dir von Herzen und freu mich schon aufs nächste mal.
    In Verbundenheit, Maja

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    • Nicole Paskow

      Liebe Maja, danke für Deine herzerfrischenden Worte! “

      Es ist ein offenes Geheimnis, dass ich die lebendige Gegenwart bin, der lebendige Lebensfluss. Die Frage ist allein warum fühlt sich das nicht permanent so an, warum erlebe ich mich denn nicht jeden Moment frisch und neu..??“, schreibst Du. Das Missverständnis ist, dass es darum geht, sich frisch und neu zu fühlen. Doch der lebendige Lebensfluss ist immer und in jeder Form der Wahrnehmung enthalten. Er ist selbst nichts, was erfahrbar ist. Er IST. Sein IST. So oder so. Ob wir nun gerade hassen oder oder ob wir gerade lieben, ob wir glücklich sind oder verzweifelt. Sein ist das, was ist. Wie sagt Karl Renz so treffend: „Sei, was Du nicht nicht sein kannst!“ Das ist ein direkter Hinweis auf das Absolute im Sein, auf das „Seiende“ im Sein. Es durchzieht alles und alles besteht daraus. Das, was es im Bewusstsein bewirken kann, ist das Wissen um das unverrückbare Sein, das Du bist. Egal, was (Du) dieses Sein, gerade erlebt. Der darin liegende Gleichmut, der daraus wahrnehmbar werden kann, ist wie ein Spiegel der Präsenz, in der auftauchen kann, was will. Niemand ist da, der eingreift, Widerstand leistet oder abwehrt. Alles ist das, was sich zeigt. Es ist der Frieden, der darin immer ist, der keinen Schutz braucht und keine Friedensstifter. Wenn es dunkel in Dir ist, dann ist es dunkel. Wenn es hell in Dir ist, dann ist es hell. Du erlebst alles, wie es ist. Wie der klare Himmel, der nicht auf die Idee kommt, sich von den dunklen Wolken zu distanzieren … Totale Nähe zu allem! Von Herzen, Nicole

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      • Maja

        Hallo liebe Nicole,
        Das, was Du schreibst, stimmt für mich nach Strich und Faden haargenau: das Missverständnis ist sehr klar entschleiert. Ja, ich bin Liebe und Freiheit, die ist was sie ist in JEDEM ZUSTAND…’Totale Nähe zu allem‘ wie du deutlich, klar und ausführlich beschreibst…was es denn bedeutet und ist…der lebendige Lebensfluss zu sein….
        Ich danke Dir von Herzen für Deine liebende, belebende Präsenz, Maja

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