Gelassenheit ... - anhören
Die Dinge so zu lassen, wie sie sind, was würde das für Dich bedeuten? Was ist das – Gelassenheit? Denkst Du sofort an Situationen und Umstände? An Menschen, die Dich herausfordern, an Deine Konflikte? Sträubt sich etwas in Dir gegen die Anweisung:
Lass es wie es ist?
Das wäre kein Wunder. Die meisten Menschen denken dabei sofort an äußere Begebenheiten, bei denen es ihnen schwerfallen würde, sie so zu lassen, wie sie sind. Doch dabei wird ein Schritt übersprungen. Wo ist denn der Ursprung unseres Drangs fast gar nichts (außer die scheinbar guten Dinge) so zu lassen, wie sie sind?
Er liegt in der umgekehrten Richtung.
Wo wird zuerst etwas nicht so gelassen, wie es ist?
Es ist genau dort, wo eine Emotion auftaucht, die unerwünscht ist. Sie taucht auf und sofort wird sie in die „unerwünscht“ Ecke geschoben. Sie wird runtergeschluckt oder abgewiesen. Tür zu. Du kommst hier nicht rein.
Keine Gelassenheit Dir selbst gegenüber …
Der Drang zur Veränderung der Tatsachen (Wut taucht auf) gilt in allererster Linie den Dir nächsten Wahrnehmungen. Er gilt Deinen Gedanken und Gefühlen gegenüber. Und diesen Veränderungsdrang projizieren wir direkt nach außen, auf die anderen Menschen und Situationen.
Das ist der Mechanismus. Verzweiflung taucht auf, Einsamkeit, Angst, Unsicherheit, Scham … und es fühlt sich sofort so unangenehm an, dass wir es loswerden wollen. Weg mit diesem Empfinden.
Mir ist erst neulich klar geworden, warum das so ist: Kein Mensch erträgt die negativen Emotionen eines anderen. Ich habe mich lange gefragt, warum das so ist. Wie oft sagen wir „Hör auf!“, zu unseren Kindern, wenn sie weinen oder wütend sind? (Oder ziehen uns von einem Menschen zurück …)
Isoliert und allein gelassen …
Es macht uns hilflos und aggressiv. Wie oft haben wir selbst als Kinder gehört, dass wir aufhören sollen unsere Emotionen auszuagieren? „Geh ins Zimmer, bis Du Dich wieder beruhigt hast!“ Wir wurden isoliert und allein gelassen mit der Wut, der Traurigkeit, der Angst.
„Stell Dich nicht so an!“. Wir hatten keine Chance überhaupt herauszufinden, was das ist – Wut, Traurigkeit, Angst. Weil wir diese Emotionen nie in sicherer Umgebung ausagieren und erleben durften. Sie wurden immer abgebrochen und irgendwohin in uns selbst verschoben. Und dort sitzen sie immer noch. Allesamt.
Mir wurde das klar, als mir zum ersten Mal aufgefallen war, wie ich eingreifen will, wenn mein Kind leidet. Wenn es traurig ist, weil etwas nicht so klappt, wie es will. Wenn es wütend ist, weil sich Menschen anders verhalten, als sie es sollen. Etwas in mir will diesen Ausdruck ändern. Angeblich damit es dem Kind besser geht. Um es zu trösten.
Wut reagiert mit Wut auf Wut
Mir wurde schlagartig klar, was für ein Unsinn das ist. Die Wut meines Kindes (oder eines anderen Menschen) kann mich nur dann triggern, wenn sie meine eigene weckt. Wenn sie mich etwas fühlen lässt, das ich nicht fühlen will. Vielleicht ist es Hilflosigkeit, die ich in mir bemerke, vielleicht ist es irgendein Schuldgefühl, das ich nicht wahrnehmen will, und reagiere automatisch auf die Wut des Kindes ebenfalls mit Wut …
Und hier beginnt die wahre Verantwortung. In dem Moment, wo ich das sehen kann. In diesem Moment bin ich dafür da, dass ich meine Emotionen nicht mehr verändere. Weil ich weit genug bin, um sie zu (er)tragen, wie sie sind. Um überhaupt erstmal herauszufinden, was das ist – Traurigkeit, was das ist – Angst, Scham und all diese Empfindungen. Denn ich kenne sie gar nicht, weil ich sie zu selten vollständig wahrgenommen habe. So vollständig, dass sie so lange da sein durften, wie sie wollten. Bis sie von selbst abgeklungen sind. Einfach nur dadurch, dass sie passieren durften.
Und dann merke ich, dass ich sie dann wirklich fühle, vollkommen fühle, wenn sie kein Problem mehr sind. Sie sind genau so da, wie alles andere. Kein Problem. Sie werden nicht mehr kommentiert. Alles, was nicht kommentiert wird, verliert seine Bedeutung.
Wo ICH BIN ist alles gelassen …
Ich höre damit auf, mich von irgendetwas abzuschneiden, was hier auftaucht, wo ICH BIN. Was für eine absurde Idee das überhaupt ist, etwas, das hier auftaucht abzuwehren. Nicht haben zu wollen.
Nur weil die meisten Menschen zu begrenzt sind, um Raum zu sein für das, was in ihnen auftaucht, muss ich mir das nicht noch länger zu Eigen machen und mich bis an mein Lebensende von Empfindungen trennen, die in diesem Körper gefühlt werden. Sie sind ja da! Sie sind schon da! Und es tut so lange entsetzlich weh, dass sie da sind, solange ich mich dagegen wehre, dass sie vollständig in meinem Bewusstsein auftauchen. Weil ich Konsequenzen befürchte, die ich nicht glaube, tragen zu können.
Und das nur deshalb, weil ich nie gelernt habe, meine Emotionen vollständig zu ertragen. Nein, ich wurde süchtig danach, dass sie mir jemand abnimmt. Dass mich jemand tröstet, ablenkt und auf andere Gedanken bringt. Oder dass ich sie an anderen auslasse, weil ich sie loshaben will. Oder dass ich mich zurückziehe, um still zu leiden.
Ich kann sie alle lassen …
Seitdem ich das weiß, kann ich sie alle lassen. All die Menschen in meiner Umgebung, die wütend sind, ängstlich, genervt und die schlechte Laune verbreiten. Ich kann das so lassen, wie es gerade ist. Weil ich mich selbst aushalte. Wenn ich schlechte Laune habe, brauche ich keinen Grund zur Rechtfertigung mehr. „Ich habe schlechte Laune, weil …“
Ich habe einfach schlechte Laune.
Kann sogar sein, dass man mir das nicht ansieht. Obwohl das eher unwahrscheinlich ist. Ich bin mit ihr, in ihr, bei ihr. Ich fühle sie, sie ist dumpf und dunkel, sie sitzt in meinem Magen, sie macht mich schwer und verschlossen. Sie grenzt mich ab. Und das passiert so lange, bis sie durch die Türspalte verschwindet. Einfach so.
Und mein Kind darf endlich auch schlecht gelaunt sein. Es darf genervt sein, sich falsch behandelt fühlen und leiden. Es darf heulen und irrational sein. Ich muss nicht mehr unterbindend darauf reagieren, wenn ich mit mir selbst klar bin. Und das entspannt die Atmosphäre immer wieder, ungemein.
Sich selbst halten
Das Kind lernt sich selbst auszuhalten. Weil ich einfach nur da bin, ohne es zu kommentieren. Es muss nicht zwangsläufig weg von mir gehen, wenn es sich so verhält. Dadurch kann es lernen, auch von sich selbst nicht wegzugehen, wenn es etwas spürt, dass es nicht mag.
Genau das heißt es für mich Gefühle zu fühlen. Wir fühlen sie nicht, wenn wir uns in ihnen verlieren. Dann verlieren wir uns nur in der Abwehr gegen sie. Und leiden. Wir fühlen sie, wenn sie kein Problem mehr darstellen, sobald sie da sind. Sobald sie sich in uns ausbreiten können, genauso, wie sie gerade sind.
Es ist allein die direkte Einsicht in das einfache, unkontrollierbare Dasein, das wir ohnehin sind, das alles entspannt. Es zeigt sich so, wie es ist. Es ist gelassen als das, als was es sich gerade zeigt.
Alles zeigt sich dem Bewusstsein
Alles, was in Dir auftaucht, will gesehen werden. Und zwar von Dir. Einfach nur wahrgenommen werden, wie es ist. Sieh Dich an, wie Du bist und Du siehst wie Du geschiehst, einfach so, ohne Grund, ohne Erklärung, ohne irgendwas.
Es gibt keine Widersprüche. Es gibt keine Gegensätze, keinen Sinn und keinen Grund. Es gibt nur das, was auftaucht. Es gibt keine Dualität, die trennt. Die Zwei entspringt immer dem Einen und das Eine der Zwei.
Wir können immer gerade jetzt, mit genau dem mitgehen, was geschieht. Weil es so oder so geschieht und nichts und niemand darauf einen Einfluss hat. Und das beinhaltet absolut alles, was passiert. Niemand muss sich einmischen. Niemand muss etwas tun. Wir sind vollkommen frei zu sein wie wir sind und können gleichzeitig nichts dafür oder dagegen tun, wie wir sind.
Ist das gesehen, dann ist alles gesehen.
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Hier ist ein Video zum Text …
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Danke, Nicole für diesen wunderbar erhellenden Text und auch das Video! Das ist unglaublich gut. Es zeigt mir das erste Mal auf, wie sehr ich meine Taschenlampe auf die „alte Leier“ meiner Gedanken ujnd Gefühle gerichtet habe! Das musste ich erstmal sehen!! Genial! BItte weiter so … Deine Katja
Danke für das Teilen Deiner persönlichen Erfahrung mit Deinem Kind … das leuchtet mir nun besser ein, als wenn es nur abstrakt beschrieben wird. Ich mag es, wie Du mit dem Persönlichen und dem Unpersönlichen spielst.
Danke Nicole für diesen Text. Es tut so gut von anderen Menschen zu hören, dass der Weg, den ich gehe, von vielen nicht gesehen, verstanden oder sogar oft ein Trigger ist, dann komme auch ich ins straucheln,zweifle und bin unendlich froh durch deine Texte zurück zu meinem Weg zu finden. Danke